Gericht darf durch Entscheidung keine staatliche Beihilfe einführen

Eine staatliche Beihilfe kann nicht durch eine gerichtliche Entscheidung eingeführt werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof im Streit um von der lettischen Regulierungsbehörde eingefrorene Stromtarife mit einem am Donnerstag ergangenen Urteil klargestellt. Die Einführung einer staatlichen Beihilfe unterliege Zweckmäßigkeitserwägungen, die dem Richteramt fremd seien, heißt es in der Begründung des EuGH.

Verfahren zum Verkauf von überschüssigem Strom geändert

2005 erließ Lettland ein bis 2014 geltendes Gesetz zur Änderung des Verfahrens für den Verkauf von überschüssigem Strom durch die Erzeuger zu einem erhöhten Tarif. Dieses Gesetz sah vor, dass die Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, die ihre Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt bereits aufgenommen hatten, insbesondere bei den Preisen für den Verkauf ihres Stroms weiterhin in den Genuss der früheren günstigeren Bedingungen kamen. Die beiden lettischen Unternehmen Dobeles HES SIA und GM SIA betreiben Wasserkraftwerke, mit denen sie Strom aus erneuerbaren Energiequellen erzeugen. Das Gesetz wurde es von der zur Festlegung des durchschnittlichen Stromtarifs befugten lettischen Regulierungsbehörde dahin ausgelegt, dass der geltende durchschnittliche Stromverkaufstarif für diese Erzeuger eingefroren wurde. Sie aktualisierte ihn daher nicht mehr. Die beiden lettischen Unternehmen verlangten von der Regulierungsbehörde daraufhin "Schadensersatz" für die Verluste, die ihnen durch das Einfrieren des Tarifs entstanden sein sollen. Die Regulierungsbehörde lehnte dies ab, während das zuständige lettische Verwaltungsgericht ihrer Klage teilweise stattgab.

Zeitpunkt der vollständigen Liberalisierung des Strommarkts unerheblich

Das mit einer Kassationsbeschwerde befasste Oberste Gericht von Lettland ersuchte den EuGH um die Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 108 Abs. 3 AEUV, der Verordnung über De-minimis-Beihilfen und der Verordnung über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV. Der EuGH stellte zunächst klar, dass bei zwei verschiedenen Fallgruppen die für das Vorliegen einer "staatlichen Beihilfe" im Sinn von Art. 107 Abs. 1 AEUV erforderliche Inanspruchnahme "staatlicher Mittel" zu bejahen ist: Entweder handele es sich um Gelder, die nach den nationalen Rechtsvorschriften aus einer Steuer oder anderen obligatorischen Abgaben stammen und im Einklang mit diesen Rechtsvorschriften verwaltet und verteilt werden, oder um Beträge, die stets unter staatlicher Kontrolle bleiben. Die Richter betonten, dass für die Beurteilung der Frage, ob der im Ankauf von Strom zu einem erhöhten Tarif bestehende Vorteil als staatliche Beihilfe einzustufen ist, der Zeitpunkt der vollständigen Liberalisierung des Strommarkts in Lettland unerheblich ist. Die Einstufung als "staatliche Beihilfe" hänge nämlich nicht davon ab, dass der betreffende Markt zuvor vollständig liberalisiert wurde.

Schadensersatzzahlungen grundsätzlich keine Beihilfen

Der Gerichtshof wies ferner darauf hin, dass sich staatliche Beihilfen als Maßnahmen der öffentlichen Hand zur Begünstigung bestimmter Unternehmen oder bestimmter Erzeugnisse in ihrem rechtlichen Charakter grundlegend von Zahlungen zum Ersatz eines durch Privatpersonen verursachten Schadens unterscheiden, zu denen nationale Behörden gegebenenfalls verurteilt werden. Schadensersatzzahlungen würden daher keine staatlichen Beihilfen im Sinne des Unionsrechts darstellen. Dagegen spiele es für die Einstufung der Beträge als "staatliche Beihilfen" keine Rolle, ob die auf ihre Zahlung gerichteten Klagen nach nationalem Recht als "Entschädigungsklagen" oder "Schadensersatzklagen" angesehen werden. Überdies stelle, sofern mit einer nationalen Regelung eine "staatliche Beihilfe" eingeführt werde, die Zahlung eines Betrags, der in Anwendung dieser Regelung gerichtlich geltend gemacht werde, ebenfalls eine solche Beihilfe dar.

Zweckmäßigkeitserwägungen dem Richteramt fremd

Entgegen dem Vorbringen der Kommission kommt der EuGH in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass eine staatliche Beihilfe nicht durch eine gerichtliche Entscheidung eingeführt werden kann. Ihre Einführung unterliege nämlich Zweckmäßigkeitserwägungen, die dem Richteramt fremd seien. Der EuGH führte zur Anwendbarkeit des Unionsrechts auf De-minimis-Beihilfen aus, dass ihr De-minimis-Charakter – sollte es sich um staatliche Beihilfen handeln – anhand der Gesamtsumme der bereits erhaltenen Beträge und der von den Klägerinnen für den Referenzzeitraum noch geforderten Beträge zu beurteilen sei. Schließlich müsse das nationale Gericht einen bei ihm gestellten Antrag auf Zahlung einer Beihilfe, die rechtswidrig ist, weil sie der Kommission nicht gemeldet wurde, obwohl es sich nicht um eine De-minimis-Beihilfe handelt, ablehnen. Das nationale Gericht könne jedoch einem Antrag auf Zahlung eines Betrags, der einer neuen, nicht bei der Kommission angemeldeten Beihilfe entspricht, unter dem Vorbehalt stattgeben, dass die Beihilfe zuvor von den betreffenden nationalen Behörden ordnungsgemäß bei der Kommission angemeldet und von ihr genehmigt wird oder als von ihr genehmigt gilt.

EuGH, Urteil vom 12.01.2023 - C-17/21

Redaktion beck-aktuell, 16. Januar 2023.