Gerechtfertigte Auslieferung eines EU-Bürgers an Drittstaat

Die Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat zum Vollzug einer Strafe kann gerechtfertigt sein, um der Gefahr der Straflosigkeit entgegenzuwirken. Dies ist nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs insbesondere dann der Fall, wenn der ersuchte Mitgliedstaat völkerrechtlich zur Auslieferung verpflichtet ist und der Drittstaat der Vollstreckung der Strafe im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats nicht zustimmt.

Deutschland soll Bosnier mit auch kroatischer Staatsbürgerschaft ausliefern

Bosnien und Herzegowina hat Deutschland um die Auslieferung eines Bosniers zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ersucht. Der Betroffene besitzt auch die kroatische Staatsbürgerschaft und ist daher Unionsbürger. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts München ist Deutschland wegen der im Rahmen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens gegenüber Bosnien und Herzegowina eingegangenen Verpflichtungen grundsätzlich zur Auslieferung des Betroffenen verpflichtet. Es fragt sich jedoch, ob das Unionsrecht der Auslieferung entgegensteht, und zwar im Hinblick auf das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie angesichts des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

Erlaubte Ungleichbehandlung zwischen Deutschen und anderen EU-Bürgern?

Das deutsche Grundgesetz verbietet nämlich die Auslieferung eines Deutschen an einen Drittstaat. Unter solchen Umständen erlaubt das Unionsrecht eine Ungleichbehandlung zwischen Deutschen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten nur dann, wenn diese Ungleichbehandlung auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht. Aufgrund seiner Zweifel hat sich das OLG München mit einer Frage an den EuGH gewandt (NJW-Spezial 2021, 282). Es führt aus, dass die deutschen Behörden die kroatischen Behörden von dem Auslieferungsersuchen in Kenntnis gesetzt hätten, ohne dass diese hierauf reagiert hätten. Nach deutschem Recht könne jedoch der Betroffene seine Strafe in Deutschland verbüßen, wenn Bosnien und Herzegowina dem zustimme.

EuGH: Deutschland muss sich um Zustimmung bemühen

Der EuGH hat entschieden, dass sich der ersuchte Mitgliedstaat (Deutschland) in einer solchen Situation aktiv um diese Zustimmung bemühen muss, damit die Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbüßt wird, und somit der Gefahr der Straflosigkeit entgegengewirkt werden kann, wobei gegenüber dem betroffenen Bürger eine Maßnahme ergriffen wird, durch die seine Freizügigkeit weniger beeinträchtigt wird als durch seine Auslieferung an einen Drittstaat.

Ohne Zustimmung Auslieferung nach EU-Recht grundsätzlich möglich

Werde diese Zustimmung nicht erlangt, stehe jedoch das Unionsrecht (hier das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie das Diskriminierungsverbot) einer Auslieferung in Anwendung eines völkerrechtlichen Übereinkommens nicht entgegen. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass der Betroffene straflos bliebe. Eine Auslieferung bleibe jedoch nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeschlossen, wenn in dem Drittstaat für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

EuGH, Urteil vom 22.12.2022 - C-237/21

Redaktion beck-aktuell, 22. Dezember 2022.