Streit um Vollstreckung italienischen EU-Haftbefehls
Für sieben Handlungen bei einer Demonstration gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 wurde KL in Italien 2009 wegen "Verwüstung und Plünderung" als einheitlicher Straftat zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er wurde in Frankreich festgenommen. Seiner Übergabe an Italien in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls stimmte er nicht zu. Die französische Ermittlungskammer verweigerte die Übergabe von KL, da zwei der sieben als einheitliche Tat abgeurteilten Handlungen im französischen Strafrecht keine Straftaten darstellen.
Frage nach Voraussetzung beiderseitiger Strafbarkeit
Der Kassationsgerichtshof wollte wissen, ob die Störung des öffentlichen Friedens als laut italienischen Gerichten wesentliches Tatbestandsmerkmal der "Verwüstung und Plünderung" für die Beurteilung der Einhaltung der im Unionsrecht vorgesehenen Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit relevant ist. Denn zum einen unterschieden sich die Tatbestandsmerkmale dieser Straftat in Frankreich und Italien und zum anderen könne ein Teil der von diesem Straftatbestand erfassten Handlungen in Frankreich strafrechtlich nicht geahndet werden. Der EuGH sollte somit die Tragweite der Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit im Sinn des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den EU-Haftbefehl und die Übergabeverfahren definieren.
Generalanwalt: Frankreich musss EU-Haftbefehl vollstrecken
Nach Ansicht des Generalanwalts M. Athanasios Rantos muss Frankreich den EU-Haftbefehl vollstrecken. Er unterstreicht zunächst, dass es sich bei der Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung wegen Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit um eine Ausnahme handele, die eng auszulegen sei. Was die beiderseitige Strafbarkeit anbetreffe, reiche es daher aus, dass die abgeurteilten Handlungen auch im vollstreckenden Mitgliedstaat eine Straftat darstellten. Die Straftaten müssten in den beiden Mitgliedstaaten aber nicht identisch seien.
Ähnlichkeit des geschützten Interesses ausreichend
Eine beiderseitige Strafbarkeit sei gegeben, wenn die der Straftat zugrunde liegenden Sachverhaltselemente auch im Vollstreckungsstaat einer strafrechtlichen Sanktion unterlägen. Weder müssten die Tatbestandsmerkmale der Straftat noch deren Bezeichnung nach den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen exakt übereinstimmen. Maßgeblich sei, ob ein ähnliches, vom nationalen Recht des Vollstreckungsstaates geschütztes Interesse als verletzt gegolten hätte. Hier sieht Rantos die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt. Denn die im Rahmen der als "Verwüstung und Plünderung" eingestuften Straftat erfassten Handlungen könnten in Frankreich strafrechtlich geahndet werden, wobei das entsprechende Interesse der Eigentumsschutz sei. Daraus folge, dass das durch das Recht des vollstreckenden Mitgliedstaats geschützte Interesse dem im ausstellenden Mitgliedstaat geschützten ähnlich sei.
Strafbarkeit eines Teils der Tatbestandsmerkmale im Vollstreckungsstaat genügt
Laut Rantos schreibt der Rahmenbeschluss angesichts seines Wortlauts, seines Kontextes und seines Ziels zudem nicht vor, dass sämtliche Tatbestandsmerkmale einer einheitlichen Straftat, die vom EU-Haftbefehl erfasst sei, im vollstreckenden Mitgliedstaat eine Straftat darstellen müssten. Die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit sei somit auch dann erfüllt, wenn nur ein Teil der Tatbestandsmerkmale dieser einheitlichen Straftat im vollstreckenden Mitgliedstaat strafrechtlich geahndet werden könne.
Kein "außergewöhnlicher Umstand"
Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Strafe weist Rantos darauf hin, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EU-Haftbefehls nur von den durch das Unionsrecht festgelegten Voraussetzungen abhängig machen könne. Eine etwaige Unverhältnismäßigkeit der Strafe stelle keinen durch das Unionsrecht vorgesehenen Grund dar, den EU-Haftbefehl nicht zu vollstrecken. Zwar habe der EuGH festgestellt, dass unter "außergewöhnlichen Umständen" Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich seien. Nach Ansicht des Generalanwalts kann jedoch allein der Umstand, dass nicht sämtliche im Rahmen einer einheitlichen Straftat im ausstellenden Mitgliedstaat verfolgte Handlungen eine Straftat im vollstreckenden Mitgliedstaat darstellten, nicht rechtfertigen, einen neuen "außergewöhnlichen Umstand" in einem Fall zu verankern, in dem die Grundrechte der gesuchten Person im ausstellenden Mitgliedstaat beachtet worden seien.