Ausweisungsschutz nach der Richtlinie 2004/38/EG
Nach der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt hat jeder Unionsbürger, der sich fünf Jahre lang ununterbrochen in einem anderen Mitgliedstaat als dem eigenen (Aufnahmemitgliedstaat) aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen. Ebenso darf gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in "den letzten zehn Jahren" im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, eine Ausweisung nur verfügt werden, wenn dies aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von diesem Mitgliedstaat festgelegt wurden, gerechtfertigt ist.
Fall C-424/16: Ausweisung nach Totschlag
Franco Vomero, ein italienischer Staatsangehöriger, zog 1985 mit seiner Frau, einer britischen Staatsangehörigen, ins Vereinigte Königreich, wo er seitdem lebt. Im Jahr 1998 trennte sich das Paar. Im März 2001 beging Vomero einen Totschlag. 2002 wurde er wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Im Juli 2006 wurde er aus der Haft entlassen. Im März 2007 wurde seine Ausweisung verfügt. Im Hinblick auf seine Abschiebung wurde Vomero bis Dezember 2007 inhaftiert.
Britisches Vorlagegericht: Daueraufenthaltsrecht Voraussetzung für verstärkten Ausweisungsschutz?
Nach Ansicht des Vorlagegerichts (Supreme Court of the United Kingdom) hatte Vomero vor der Ausweisungsverfügung kein Daueraufenthaltsrecht erworben. Er halte sich aber seit dem 03.03.1985 im Vereinigten Königreich auf. Dies lasse vermuten, dass er im Sinne der Richtlinie seinen Aufenthalt "in den letzten zehn Jahren" in diesem Mitgliedstaat gehabt habe. Das Vorlaggericht wollte vom EuGH wissen, ob ein EU-Bürger notwendigerweise ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben müsse, bevor er einen verstärkten Ausweisungsschutz gemäß der Richtlinie genieße. Für den Fall, dass der EuGH dies verneinen sollte, wollte der Supreme Court wissen, wie die Formulierung "in den letzten zehn Jahren" auszulegen sei, insbesondere, ob Zeiträume der Abwesenheit und der Inhaftierung bei der Berechnung dieser zehn Jahre als Aufenthaltszeiträume angesehen werden könnten.
Fall C-316/16: Ausweisung nach Raubüberfall
B ist ein 1989 geborener griechischer Staatsangehöriger. Nach der Trennung seiner Eltern reiste er im Jahr 1993 im Alter von drei Jahren gemeinsam mit seiner Mutter nach Deutschland. Seine Mutter arbeitet seit ihrer Ankunft in Deutschland und besitzt neben der griechischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Abgesehen von einigen kurzfristigen Urlaubsreisen und einem kurzen Zeitraum von zwei Monaten, in dem er von seinem Vater gegen den Willen seiner Mutter nach Griechenland geholt wurde, hält sich B seit dem Jahr 1993 ununterbrochen in Deutschland auf. 2013 überfiel B, der eine mit Gummischrot geladene Pistole mit sich führte, eine Spielhalle, um sich Geld zu verschaffen. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Seit dem 12.04.2013 befindet sich B in Haft. Im November 2014 stellte die deutsche Ausländerbehörde den Verlust des Rechts von B auf Einreise und Aufenthalt in Deutschland fest. B erhob Klage. Er trug vor, dass ihm der in der Richtlinie vorgesehene verstärkte Schutz vor Ausweisung zukomme, da er sich seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland aufhalte und keine Bindungen zu Griechenland habe. Außerdem stelle die von ihm begangene Straftat keinen "zwingenden Grund der öffentlichen Sicherheit" im Sinne der Richtlinie dar.
VGH Mannheim befragt EuGH zu Kriterien für verstärkten Ausweisungsschutz
Das Vorlagegericht, der Verwaltungsgerichtshof Mannheim, meinte, dass die von B begangene Handlung nicht als zwingender Grund der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Richtlinie angesehen werden könne. Allerdings bestünden Zweifel, ob B der verstärkte Ausweisungsschutz gewährt werden könne, da er sich seit dem 12.04.2013 in Haft befinde. Der VGH wollte daher vom EuGH wissen, ob die dauerhafte Niederlassung eines EU-Bürgers im Aufnahmemitgliedstaat und das Fehlen jeglicher Verbindung zu dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitze, ausreichende Kriterien seien um festzustellen, dass dem Betroffenen der verstärkte Schutz nach der Richtlinie gewährt werden kann.
EuGH-Generalanwalt: Verstärkter Ausweisungsschutz setzt Daueraufenthaltsrecht voraus
Nach Ansicht des EuGH-Generalwalts Maciej Szpunar ist der verstärkte Ausweisungsschutz vom Besitz eines Daueraufenthaltsrechts abhängig. Er führt zunächst aus, dass der Grad der Integration eines Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat ein Schlüsselfaktor für das System des Ausweisungsschutzes nach der Richtlinie sei, da der Grad des Schutzes proportional zur Intensität der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat sei. Folglich sei es nicht möglich, in den Genuss des höheren Schutzniveaus zu kommen, ohne zuvor den Integrationsgrad erreicht zu haben, der für das niedrigere Schutzniveau verlangt werde. Ein Aufnahmemitsgliedstaat dürfe gegen Unionsbürger, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genössen, also sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in ihm aufgehalten hätten, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen. Dieser Schutz sei eine der Vergünstigungen, die mit dem Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt verbunden seien, da der Inhaber dieses Rechts in den Genuss einer Liberalisierung der Bedingungen komme, die erfüllt sein müssten, damit der Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat als rechtmäßig angesehen werde. Insbesondere werde der Inhaber des Rechts auf Daueraufenthalt auch dann gegen die Ausweisung geschützt, wenn er eine Belastung für das Sozialhilfesystem des Aufnahmemitgliedstaats sei.
Schutzsystem wäre anderenfalls inkohärent
Die Auffassung, dass das Daueraufenthaltsrecht keine Voraussetzung für den verstärkten Schutz vor Ausweisung sei, ließe das in der Richtlinie vorgesehene Schutzsystem offensichtlich inkohärent werden, so Szpunar. Denn eine solche Auffassung führte dazu, dass eine Person, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt habe, in der Regel nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden könnte, dass sie aber paradoxerweise auch ausgewiesen werden könnte, sobald sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nähme.
Keine unbedingte Aufenhaltskontinuität erforderlich
Anschließend prüft der Generalanwalt die Methode zur Berechnung des Zeitraums der "letzten zehn Jahre". Er führt aus, dass dieser Zeitraum grundsätzlich ununterbrochen sein müsse. Dies dürfe aber nicht bedeuten, dass Abwesenheiten völlig verboten werden. Denn es liefe dem mit der Richtlinie angestrebten Ziel der Personenfreizügigkeit zuwider, die Unionsbürger davon abzuhalten, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Der EuGH habe in seiner Rechtsprechung vielmehr das Konzept der Gesamtbeurteilung eingeführt, die nur vorgenommen werde, wenn sich die Frage der Kontinuität des Aufenthalts während der letzten zehn Jahre stellt. Ein solcher Ansatz ermögliche es, eine wirksame Ausübung der Personenfreizügigkeit zu gewährleisten, ohne eine unrealistische Voraussetzung zu verlangen, nämlich die unbedingte Kontinuität des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat.
Haft kann Integration infrage stellen
Laut Szpunar ist daher im Zuge der Feststellung, inwieweit die Zeiträume, in denen ein Unionsbürger nicht im Aufnahmemitgliedstaat anwesend ist, den Aufenthalt unterbrechen und verhindern, dass der Betroffene den verstärkten Schutz erhält, eine Gesamtbeurteilung der Integrationsverbindungen des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat vorzunehmen. Zwar werde ferner die Integration, die der Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen im Sinne der Richtlinie zugrunde liege, anhand des Umstands beurteilt, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Unionsbürgers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befinde, doch könne die Verbüßung einer Freiheitsstrafe die Integration des Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat in Frage stellen. Denn die Verbüßung einer Freiheitsstrafe sei mit einem erzwungenen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gleichzusetzen.
Zeitraum der Haft bei fortbestehenden Integrationsverbindungen zu berücksichtigen
Dennoch wäre es nicht gerechtfertigt, die Zeiträume der Verbüßung von Freiheitsstrafen im Rahmen der umfassenden Beurteilung unberücksichtigt zu lassen, so Szpunar weiter. Insbesondere wäre der Ausschluss von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Rahmen der Beurteilung der Integrationsverbindungen nicht mit der derzeitigen Strafrechtspolitik der Mitgliedstaaten vereinbar, der zufolge die Resozialisierung des Verurteilten einen grundlegenden Strafzweck darstelle, um es ihm zu ermöglichen, nach der Inhaftierung wieder einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Der Generalanwalt schlägt deshalb vor, dass die Formulierung "in den letzten zehn Jahren" dahin auszulegen sei, dass es sich um einen ununterbrochenen Zeitraum handelt, der ab dem genauen Zeitpunkt, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt, zurückgerechnet wird und etwaige Zeiträume der Abwesenheit oder des Freiheitsentzugs einschließt, sofern keiner dieser Zeiträume der Abwesenheit oder des Freiheitsentzugs zur Folge hatte, dass die Integrationsverbindungen mit dem Aufnahmemitgliedstaat abgerissen sind.
Alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen
Abschließend führte der Generalanwalt aus, dass die umfassende Beurteilung der Integrationsverbindungen nicht auf die Kriterien der dauerhaften Niederlassung im Aufnahmemitgliedstaat und des Fehlens jeglicher Verbindung zum Herkunftsmitgliedstaat beschränkt werden könne. Es seien dabei vielmehr alle in jedem Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen. Dabei müsse der Zeitpunkt für die Beurteilung mit dem Zeitpunkt zusammenfallen, zu dem die Behörden über die Ausweisung entscheiden. Hierzu zählten laut Generalanwalt die Art der Straftat, die zur Verurteilung und zum Vollzug der Freiheitsstrafe geführt habe, die Umstände, unter denen die Straftat begangen worden sei, sowie einige Kriterien, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Freiheitsstrafe stünden. Je stärker die Integrationsverbindungen seien, desto einschneidender müsse der Zeitraum sein, der die Kontinuität des Aufenthalts unterbreche, damit dem Betroffenen der verstärkte Ausweisungsschutz versagt werden könne, so Szpunar.