Ruhestandsalter für Richter am Obersten Gericht auf 65 Jahre abgesenkt
Am 03.04.2018 trat das neue polnische Gesetz über das Oberste Gericht in Kraft. Durch dieses Gesetz wurde das Ruhestandsalter der Richter am Obersten Gericht auf 65 Jahre gesenkt. Die neue Altersgrenze gilt seit seinem Inkrafttreten – auch für vor diesem Zeitpunkt an dieses Gericht berufene Richter. Richter am Obersten Gericht können über die Altersgrenze von 65 Jahren hinaus das Richteramt ausüben, sofern sie eine Erklärung, ihr Amt weiter ausüben zu wollen, und eine Bescheinigung, dass ihr Gesundheitszustand ihnen die Ausübung ihres Amtes erlaubt, vorlegen und der Präsident der Republik Polen dies genehmigt.
Verlängerung liegt im Ermessen des polnischen Präsidenten
Nach dem neuen Gesetz mussten die amtierenden Richter am Obersten Gericht, die vor seinem Inkrafttreten oder bis zum 03.07.2018 das 65. Lebensjahr vollendet hatten, am 04.07.2018 in den Ruhestand treten, es sei denn, sie hatten bis zum 03.05.2018 die vorgenannte Erklärung und die Bescheinigung über ihren Gesundheitszustand vorgelegt und der Präsident der Republik Polen hat ihnen die Genehmigung erteilt, ihr Amt am Obersten Gericht weiter auszuüben.
Kommission erhob Vertragsverletzungsklage
Am 02.10.2018 reichte die Kommission beim EuGH eine Vertragsverletzungsklage ein. Nach ihrer Auffassung hat Polen sowohl dadurch, dass es das Ruhestandsalter herabgesetzt und das herabgesetzte Ruhestandsalter auf die bis zum 03.04.2018 an dieses Gericht berufenen Richter angewandt hat, als auch dadurch, dass es dem Präsidenten der Republik Polen die Befugnis eingeräumt hat, den aktiven Dienst der Richter am Obersten Gericht nach freiem Ermessen zu verlängern, gegen das Unionsrecht verstoßen. Mit Beschluss vom 17.12.2018 gab der EuGH einem Antrag der Kommission auf Eilrechtsschutz statt und gab Polen auf, die Bestimmungen zur Senkung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gericht vorläufig auszusetzen.
Kommission: Entscheidung trotz zwischenzeitlicher Gesetzesänderung erforderlich
Die Kommission machte in der mündlichen Verhandlung geltend, die im vorliegenden Verfahren beanstandeten Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht seien zwar durch das Gesetz vom 21.11.2018 geändert worden, doch sei nicht sicher, ob durch dieses Gesetz die mutmaßlichen Verstöße gegen das Unionsrecht beseitigt worden seien. Jedenfalls bestehe wegen der Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit in der Unionsrechtsordnung weiterhin ein Interesse an der Entscheidung dieser Rechtssache.
Generalanwalt: Senkung des Ruhestandsalters verstößt gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
Generalanwalt Tanchev vertritt die Auffassung, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der EU-Grundrechtecharta gesondert zu prüfen seien. Dementsprechend sollten die Rügen, soweit sie auf Art. 47 der EU-Grundrechtecharta gestützt seien, als unzulässig zurückgewiesen werden, da die Kommission keine Argumente dafür vorgebracht habe, dass mit den Maßnahmen in Polen Unionsrecht durchgeführt worden sei, wie dies nach Art. 51 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta notwendig wäre. Seiner Ansicht nach sind die Rügen hingegen begründet, soweit sie auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gestützt seien. Zudem sei die vorliegende Klage nicht durch die Auslösung des Mechanismus gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV ausgeschlossen.
Nichtabsetzbarkeit für richterliche Unabhängigkeit wesentlich
Der Generalanwalt weist erstens darauf hin, dass die Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung eine der wesentlichen Garantien für die richterliche Unabhängigkeit darstelle. Der Schutz vor der Entfernung aus dem Amt (Unabsetzbarkeit) sei Grund und Niederschlag der richterlichen Unabhängigkeit und bestehe darin, dass Richter nur aus einigen gesetzlich geregelten Gründen mit den gesetzlich geregelten Garantien entlassen, vom Dienst suspendiert, versetzt oder in den Ruhestand versetzt werden könnten.
Keine rückwirkende Änderung des obligatorischen Ruhestandsalters
Insbesondere sollten Richter gemäß den Leitlinien, die von europäischen und internationalen Gremien zur Unabhängigkeit der Justiz herausgegeben worden seien, eine garantierte Amtsdauer bis zum obligatorischen Ruhestandsalter oder bis zum Ablauf ihrer Amtszeit haben und dürften nur im Einzelfall, wenn sie arbeitsunfähig oder wegen ihres Verhaltens zur Führung des Amtes ungeeignet seien, suspendiert oder aus dem Dienst entfernt werden. Eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand sollte nur auf Antrag des betroffenen Richters oder aus medizinischen Gründen möglich sein und eine Änderung des obligatorischen Ruhestandsalters dürfe keine Rückwirkung haben.
Zwangspensionierung verstößt gegen Grundsatz der Unabsetzbarkeit
Die Kommission habe gezeigt, dass die beanstandeten Maßnahmen erstens erhebliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Obersten Gerichts hätten, da sie 27 von 72 Richtern beträfen, dass es sich zweitens um spezifische Gesetze für Mitglieder des Obersten Gerichts handele und dass sie drittens nicht nur vorübergehende Geltung besäßen. Die unvermittelte und unvorhergesehene Entfernung einer großen Zahl von Richtern aus ihren Ämtern beeinträchtige zudem das Vertrauen der Öffentlichkeit. Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten nach Ansicht des Generalanwalts zwar befugt, angesichts gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen das Ruhestandsalter von Richtern anzupassen. Sie müssten dies jedoch tun, ohne unter Verstoß gegen ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen die Unabhängigkeit und die Unabsetzbarkeit der Richter zu beeinträchtigen. Tanchev ist daher der Auffassung, dass die beanstandeten Maßnahmen gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter verstießen, dessen Beachtung für die Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlich sei.
Unabhängigkeit der Gerichte erfordert Autonomie
Zweitens weist der Generalanwalt darauf hin, dass der Begriff der Unabhängigkeit gemäß den Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte, die die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung erfüllen müssten, insbesondere voraussetze, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübe, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt sei, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten.
Autonomie durch Entscheidungsmacht des Präsidenten verletzt
Im vorliegenden Fall habe Polen aber eingeräumt, dass die fehlende Zustimmung des Präsidenten der Republik, die Amtszeit eines Richters am Obersten Gericht über das Ruhestandsalter hinaus zu verlängern, keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Nach Ansicht des Generalanwalts reicht das Vorbringen Polens in Bezug auf die Vorrechte des Präsidenten der Republik gemäß der polnischen Verfassung, das im polnischen Recht verankerte System der Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit und die Kriterien, die der Landesrat für das Gerichtswesen bei seiner Stellungnahme zu berücksichtigen habe, nicht aus, um den durch die beanstandeten Maßnahmen hervorgerufenen Eindruck fehlender sachlicher Unabhängigkeit des Obersten Gerichts zu beseitigen.
Landesrat für das Gerichtswesen kann Machtbefugnis des Präsidenten nicht kompensieren
Insbesondere in Bezug auf die Rolle des Landesrats für das Gerichtswesen führt Tanchev aus, dass dessen Stellungnahmen nicht verbindlich seien, und dessen Rolle unabhängig von seiner Zusammensetzung keineswegs derart sei, dass er dem Eindruck einer übermäßigen Machtbefugnis des Präsidenten der Republik entgegenwirken könnte.
Regelungen anderer EU-Staaten und des EuGH unerheblich
Zudem sei das Vorbringen Polens zu Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten und des EuGH nicht überzeugend. Denn die Regelungen anderer Mitgliedstaaten seien nicht mit der Situation in Polen vergleichbar, da sie von anderen rechtlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen abhingen, und hinsichtlich der Frage einer Vertragsverletzung Polens ohne Belang seien. Der Verweis auf den EuGH sei ebenfalls unerheblich, da es nicht um die Änderung der Regeln über das Ruhestandsalter von Richtern des EuGH gehe, und im Übrigen nicht einschlägig, da der EuGH auf supranationaler Ebene angesiedelt sei und auf einem anderen System beruhe als dem der klassischen dreigliedrigen Gewaltenteilung in den Mitgliedstaaten.
Gefahr der Einflussnahme auf unabhängige Entscheidungen der Richter
Tanchev kommt zu dem Ergebnis, dass die beanstandeten Maßnahmen die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen, da sie geeignet seien, das Oberste Gericht und seine Richter äußeren Eingriffen und bei der ersten und erneuten Verlängerung ihrer Amtszeit dem Druck des Präsidenten der Republik auszusetzen. Dies beeinträchtige die sachliche Unabhängigkeit des Gerichts und führe zu einer Einflussnahme auf die unabhängigen Urteile und Entscheidungen der Richter, insbesondere deswegen, weil die Voraussetzung, die Verlängerung des Ruhestandsalters beim Präsidenten beantragen zu müssen, vor dem Hintergrund der Senkung des Ruhestandsalters erfolge.