EuGH-Generalanwalt: Polnische Richterinnen werden durch neue Ruhestandsregelungen diskriminiert

Die neuen polnischen Ruhestandsregelungen für Richter sind nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Dies ist zumindest die Auffassung von Generalanwalt Evgeni Tanchev in seinen Schlussanträgen vom 20.06.2019. Nach der Neuregelung wurde das Ruhestandsalter für Richter an den ordentlichen Gerichten sowie für Staatsanwälte und Richter am Obersten Gericht auf 60 Jahre für Frauen beziehungsweise 65 Jahre für Männer abgesenkt. Zuvor lag die Grenze für beide Geschlechter bei 67 Jahren. Die angefochtenen Maßnahmen würden gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und die Grundsätze der Unabsetzbarkeit von Richtern und der richterlichen Unabhängigkeit verstoßen, betonte Tanchev (Az.: C-192/18).

Befugnis zu Ermessensentscheidungen für Justizminister

Am 12.07.2017 erließ Polen das Gesetz, das die neuen Ruhestandsregelungen für Richter enthielt. Neben der Absenkung des Ruhestandsalters wurde dem Justizminister die Befugnis zu Ermessensentscheidungen eingeräumt, um die aktive Dienstzeit einzelner Richter an den ordentlichen Gerichten über die neuen Ruhestandsalter hinaus zu verlängern, während diese Befugnis zuvor vom Landesjustizrat ausgeübt wurde.

Interesse an Entscheidung trotz Änderungen am Gesetz

Da die Kommission der Auffassung ist, dass diese Regelungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, hat sie beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage erhoben. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass, obwohl die Bestimmungen des im vorliegenden Verfahren angefochtenen Gesetzes durch Gesetz vom 12.04.2018 geändert worden seien, diese Änderungen nicht alle mit ihrer Klage gerügten Punkte erledigt hätten und dass weiterhin ein ausdrückliches und gewichtiges Interesse an einer Entscheidung der Rechtssache bestehe.

Generalanwalt weist Teil der Rügen zurück

In den Schlussanträgen führt der Generalanwalt aus, dass die Rügen als unzulässig zurückgewiesen werden sollten, soweit sie auf Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gestützt seien, da die Kommission keine Argumente vorgetragen habe, um zu zeigen, dass Polen, wie es in Art. 51 Abs. 1 der Charta verlangt werde, das Recht der Europäischen Union durchgeführt habe.

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bejaht

Im Hinblick auf die Rüge der Kommission betreffend die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wies der Generalanwalt das von Polen vorgetragene Argument zurück, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Dienstzeit und Pensionsleistungen gebe, so dass die in Rede stehende Regelung unter die Richtlinie 79/7/EWG falle, die den Mitgliedstaaten bei der Festlegung eines für Männer und Frauen unterschiedlichen Renteneintrittsalters in öffentlichen Systemen der sozialen Sicherheit einen Spielraum einräume. Der Generalanwalt wies darauf hin, dass Polen nicht zu erklären versucht habe, inwiefern das in Rede stehende System von den Entscheidungen zu unterscheiden sein sollte, in denen die Voraussetzung, dass die Rentenleistungen von der Dienstzeit "unmittelbar abhängen", als gegeben angesehen wurde, so dass das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Art. 5 RL 2006/54/EG Anwendung gefunden habe. Insbesondere habe der Gerichtshof festgestellt, dass die nach den betrieblichen Rentensystemen gewährten Leistungen als "Entgelt" im Sinn des in der Rechtssache einschlägigen Unionsrechts anzusehen gewesen seien. 

Keine positive Diskriminierung

Im Hinblick auf das Vorbringen Polens zu einer positiven Diskriminierung, stellte der Generalanwalt ferner fest, dass Maßnahmen der positiven Diskriminierung nach der Rechtsprechung des EuGH "Frauen spezifisch begünstigen und ihre Fähigkeit verbessern sollen, im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und unter den gleichen Bedingungen wie Männer eine berufliche Laufbahn zu verfolgen". Da Richterinnen, die im Ruhestand seien, am Arbeitsmarkt nicht mehr im Wettbewerb stünden oder eine Laufbahn verfolgten, könnten die von der Kommission beanstandeten Maßnahmen in keiner Weise als Maßnahmen der positiven Diskriminierung anzusehen sein. Im Übrigen sollten Regelungen, die die herkömmliche Rollenverteilung in die Zukunft fortschreiben, nicht als Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung betrachtet werden.

Angefochtene Maßnahme steht Männern nicht zu

Darüber hinaus stehe die angefochtene Maßnahme Männern, die wegen der Kindererziehung Karrieremöglichkeiten nicht wahrnehmen könnten, nicht offen und berücksichtige nicht, dass einige Frauen davon überhaupt nicht betroffen seien. Der Generalanwalt ist daher der Ansicht, dass das unterschiedliche Ruhestandsalter gegen Unionsrecht verstößt.

Schutz vor Absetzung als wesentliche Garantie

Der Generalanwalt verwies weiter darauf, dass das Unionsrecht die Mitglieder der Gerichte vor der Absetzung schütze. Dies stelle eine der für die richterliche Unabhängigkeit wesentlichen Garantien dar. Der Begriff der Unabhängigkeit setze insbesondere voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübe, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten. Sie müsse auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt sein, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Nach Ansicht des Generalanwalts muss die Senkung des Ruhestandsalters von Richtern daher an sich durch Schutzmaßnahmen flankiert werden, um zu gewährleisten, dass ein Richter nicht de facto abgesetzt werden kann. Das Gesetz von 2017 aber stehe nicht im Einklang mit der Garantie der Unabsetzbarkeit von Richtern und ihrer Unabhängigkeit.

Paket nicht im Einklang mit objektivem Element der Unparteilichkeit

Dieses im Paket mit der Möglichkeit der Verlängerung der Amtszeit durch den Justizminister stehe nicht im Einklang mit dem objektiven Element der Unparteilichkeit, das durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geschützt werde, die eine weitere, seit Langem anerkannte Quelle für die Ausgestaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Rahmen des primären Unionsrechts darstelle. Generalanwalt Tanchev kommt zu dem Schluss, dass Polen mit der Absenkung des Ruhestandsalters für Richter an den ordentlichen Gerichten in Verbindung damit, dass dem Justizminister das Ermessen eingeräumt werde, die aktive Dienstzeit dieser Richter zu verlängern, gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat.

EuGH, Schlussanträge vom 20.06.2019 - C-192/18

Redaktion beck-aktuell, 21. Juni 2019.

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