Vertragsverletzungsklage gegen neue Disziplinarordnung für Richter
2017 erließ Polen eine neue Disziplinarordnung für die Richter des polnischen Oberstes Gerichts und der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Gemäß dieser Gesetzesreform wurde insbesondere eine Disziplinarkammer beim Obersten Gericht eingerichtet. Die Disziplinarkammer ist namentlich für Disziplinarsachen gegen Richter des Obersten Gerichts und im zweiten Rechtszug für Disziplinarsachen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig. Die Kommission hat wegen der neuen Disziplinarordnung eine Vertragsverletzungsklage gegen Polen erhoben, da das Land nach ihrer Ansicht gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hat. Die Kommission macht insbesondere geltend, dass die neue Disziplinarordnung die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleiste. Diese sei ausschließlich mit Richtern besetzt, die vom Landesjustizrat ausgewählt worden seien. Deren 15 der Richterschaft angehörenden Mitglieder wiederum seien vom Sejm (Abgeordnetenkammer) gewählt worden. Im April 2020 entschied der EuGH in einer einstweiligen Verfügung, dass die Disziplinarkammer ihre Arbeit bis zu einem endgültigen Urteil aussetzen muss.
EuGH-Generalanwalt: Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleistet
Nach Ansicht von Generalanwalt Tanchev hat die Kommission hinreichend dargetan, dass die streitigen Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleisteten und daher gegen Art. 19 Abs.1 Unterabs. 2 EUV verstoßen. Es könne nicht zugelassen werden, dass ein Gericht nicht den Eindruck der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vermittelt und dadurch das Vertrauen beeinträchtigt, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen genießt. Auch die weiteren Rügen der Kommission seien begründet. So verstoße die Möglichkeit der disziplinarischen Ahndung des Inhalts von Gerichtsentscheidungen gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Sie habe zweifellos "abschreckende Wirkung", und zwar nicht nur auf die betroffenen Richter, sondern auch auf künftige Richter.
EUV-Verstoß durch Befugnis des Vorsitzenden der Disziplinarkammer zur Bestimmung des Disziplinargerichts
Dass es in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen in das Ermessen des Vorsitzenden der Disziplinarkammer gestellt sei, das zuständige Disziplinargericht erster Instanz zu bestimmen, verstoße gegen das Erfordernis, dass ein solches Gericht durch Gesetz errichtet sein muss. Da die streitigen Bestimmungen keine Kriterien für die Ausübung der Bestimmungsbefugnis enthielten, bestehe die Gefahr einer Ausübung des Ermessens, die den Status der Disziplinargerichte als durch Gesetz errichtete Gerichte untergraben würde. Darüber hinaus könnte die fehlende Unabhängigkeit der Disziplinarkammer als ein Faktor gesehen werden, der zu berechtigten Zweifeln an der Unabhängigkeit des Vorsitzenden der Kammer beitrage.
Verstoß gegen Verfahrensrechte der Richter
Ferner verletze die streitige Regelung, wonach der Justizminister durch Bestellung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers Vorwürfe gegen Richter der ordentlichen Gerichte auf unbegrenzte Zeit aufrechterhalten kann, das Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist. Auch verletze die Regelung, wonach Handlungen im Zusammenhang mit der Bestellung eines Verteidigers von Amts wegen den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen und Verfahren auch in Abwesenheit des beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durchgeführt werden können, die Verteidigungsrechte.
Verstoß gegen Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV
Schließlich verstößt die streitige Regelung nach Ansicht des Generalanwalts gegen Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV, indem sie es zulasse, dass das Recht der nationalen Gerichte, um Vorabentscheidung zu ersuchen, durch die Möglichkeit der Einleitung von Disziplinarverfahren eingeschränkt wird. Solche Maßnahmen untergrüben nicht nur die Funktionsweise des Vorlageverfahrens, sondern würden wahrscheinlich auch künftig andere nationale Richter in ihren Entscheidungen darüber beeinflussen, ob sie Vorlagefragen stellen, wodurch eine "abschreckende Wirkung" erzielt werde. Allein schon der Gedanke, dass ein nationaler Richter wegen eines Vorabentscheidungsersuchens Disziplinarverfahren oder -maßnahmen ausgesetzt werden könnte, treffe das in Art.267 AEUV vorgesehene Verfahren in seinem Kern und damit auch die Grundlagen der Union selbst.