Streit um Unabhängigkeit polnischer Justiz schwelt schon lange
Die von Polens nationalkonservativer PiS-Regierung begonnenen Reformen des Justizsystems stehen schon seit Jahren heftig in der Kritik. Die EU-Kommission hat schon mehrere Verfahren gegen Warschau eingeleitet, weil sie die Unabhängigkeit der polnischen Richter gefährdet sieht. Der EuGH hat mehrfach gegen Polen geurteilt. Die Regierung in Warschau weist die Kritik stets zurück. Das aktuelle Gutachten beschäftigt sich mit der Machtfülle des Justizministers Zbigniew Ziobro (50), der zugleich Generalstaatsanwalt und Architekt der Justizreformen ist. EuGH-Generalanwalt Bobek kritisiert konkret die Befugnis des Ministers, Richter nach freiem Ermessen an höhere Gerichte abzuordnen und diese Abordnung jederzeit wieder beenden zu können. Dies geschehe auch nicht transparent. Zudem sieht Bobek kritisch, dass abgeordnete Richter gleichzeitig Disziplinarbeauftragte an ordentlichen Gerichten sein können.
Abordnungsentscheidungen des Justizministers nicht transparent
In einem rechtsstaatlichen System müsse zumindest eine gewisse Transparenz und Rechenschaftspflicht bei Entscheidungen über die Abordnung von Richtern gegeben sein, so Bobek. Insbesondere sollten Entscheidungen im Zusammenhang mit der Abordnung eines Richters (Beginn oder Beendigung) auf der Grundlage von im Voraus bekannten Kriterien getroffen und ordnungsgemäß begründet werden. Zudem müssten sie, um eine gewisse Kontrolle zu gewährleisten, ein Mindestmaß an Klarheit in Bezug auf die Frage bieten können, warum und in welcher Weise eine bestimmte Entscheidung getroffen worden sei. Dies sei aber bei den fraglichen nationalen Maßnahmen nicht erkennbar. Die vom Justizminister und Generalstaatsanwalt bei der Abordnung von Richtern und der Beendigung ihrer Abordnung angewandten Kriterien, sofern es sie überhaupt gebe, würden jedenfalls nicht öffentlich gemacht. Auch die Tatsache, dass die Abordnung auf unbestimmte Zeit erfolgt und jederzeit nach dem Ermessen des Justizministers und Generalstaatsanwalts beendet werden kann, bereitet Bobek Sorgen.
Anreiz für Entscheidungen im Sinne des Justizministers
Auch erlaube die Abordnung von Richtern dem hierarchischen Vorgesetzten eines am Strafverfahren Beteiligten, dem (General-)Staatsanwalt, den Spruchkörper (oder einen Teil desselben), der die von den ihm unterstehenden Staatsanwälten eingeleiteten Verfahren verhandeln wird, zusammenzustellen. Infolgedessen würden manche Richter einen Anreiz verspüren, im Sinne des Staatsanwalts oder, allgemeiner, nach dem Wunsch des Justizministers und Generalstaatsanwalts zu entscheiden. Die Möglichkeit, durch eine Abordnung an ein höheres Gericht belohnt zu werden, könnte für Richter der unteren Instanzen nämlich eine Versuchung darstellen, weil sie ihnen bessere Karriereaussichten und ein höheres Gehalt böte. Umgekehrt könnten abgeordnete Richter davon abgehalten werden, unabhängig zu handeln, um das Risiko zu vermeiden, dass ihre Abordnung beendet wird.
Wahrnehmung als Spitzel in den eigenen Reihen?
Die Situation werde zusätzlich dadurch verschlimmert, dass die abgeordneten Richter auch die Stellung von Disziplinarbeauftragten für die Richter ordentlicher Gerichte bekleiden könnten. Die Annahme, dass Richter sich scheuen, Kollegen zu widersprechen, die irgendwann ein Disziplinarverfahren gegen sie anstrengen könnten, sei sicherlich nicht weit hergeholt. Auch könnten solche Personen in struktureller Hinsicht aufgrund des Kontextes und der Rahmenbedingungen für ihre Abordnung als eine "diffuse Kontrolle und Aufsicht" innerhalb der gerichtlichen Spruchkörper und der Gerichte, an die sie abgeordnet wurden, wahrgenommen werden. Daher führten die fraglichen nationalen Bestimmungen zum einen zu einem ziemlich besorgniserregenden Netzwerk von Verbindungen zwischen den abgeordneten Richtern, den Staatsanwälten und (einem Mitglied) der Regierung und zum anderen zu einer ungesunden Rollenvermischung zwischen Richtern, normalen Staatsanwälten und Disziplinarbeauftragten.