Bialowieza-Urwald ist Natura-2000-Schutzgebiet
Im Jahr 2007 erteilte die Kommission gemäß der Habitatrichtlinie 92/43/EWG ihr Einvernehmen zur Ausweisung des Natura-2000-Gebiets Puszcza Białowieska, das auch die drei Forstbezirke Białowieża, Browsk und Hajnówka umfasst, als "Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung" wegen des Vorhandenseins von natürlichen Lebensräumen und von Lebensräumen bestimmter vorrangig zu schützender Tier- und Vogelarten. Dieses Gebiet ist außerdem ein gemäß der Vogelschutzrichtlinie 2009/147/EG ausgewiesenes besonderes Schutzgebiet für Vögel und einer der besterhaltenen Naturwälder Europas, der durch eine Vielzahl alter, zum Teil über hundertjähriger Bäume und große Mengen von Totholz gekennzeichnet ist.
Polnischer Umweltminister genehmigte Verdreifachung der Holzgewinnung
Aufgrund der beständigen Ausbreitung des Fichtenborkenkäfers (Buchdrucker) genehmigte der polnische Minister für Umwelt 2016 für den Zeitraum von 2012 bis 2021 nahezu eine Verdreifachung der Holzgewinnung allein im Forstbezirk Białowieża sowie Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung wie Sanitärschnitte, Aufforstungen und Verjüngungsschnitte in Gebieten, die bis dahin von jeglichen Eingriffen ausgenommen waren. Im Jahr 2017 erließ der Generaldirektor der Staatsforste sodann für die drei Forstbezirke Białowieża, Browsk und Hajnówka die Entscheidung Nr. 51 "über das Fällen von vom Buchdrucker befallenen Bäumen und das Einholen von Bäumen, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sowie ein Brandrisiko darstellen, in allen Altersklassen der Waldbestände der Forstbezirke …". Daraufhin wurde mit der Beseitigung trockener Bäume und vom Buchdrucker befallener Bäume in diesen drei Forstbezirken auf einer Fläche von etwa 34.000 Hektar des sich über 63.147 Hektar erstreckenden Natura-2000-Gebiets Puszcza Białowieska begonnen.
Kommission klagt gegen Polen wegen Vertragsverletzung
Da sich die polnischen Behörden nach Ansicht der Kommission nicht vergewissert hatten, dass diese Waldbewirtschaftungsmaßnahmen nicht das Natura-2000-Gebiet Puszcza Białowieska als solches beeinträchtigten, hat diese am 20.07.2017 eine Vertragsverletzungsklage erhoben, mit der sie die Feststellung begehrt, dass Polen gegen seine Verpflichtungen aus der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie verstoßen habe.
EuGH-Generalanwalt sieht Verstoß gegen Habitat- und Vogelschutzrichtlinie
EuGH-Generalanwalt Yves Bot vertritt die Ansicht, dass Polen gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie verstoßen habe. Die Habitatrichtlinie ziele darauf ab, dass die Mitgliedstaaten geeignete Schutzmaßnahmen träfen, um die ökologischen Merkmale der Gebiete, in denen diese natürlichen Lebensraumtypen vorkämen, zu erhalten. So müssten die für die besonderen Schutzgebiete nötigen Erhaltungsmaßnahmen festgelegt und besondere Anforderungen beachtet werden, wenn Pläne oder Projekte angenommen werden sollten, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stünden oder hierfür nicht notwendig seien, die ein solches Gebiet jedoch erheblich beeinträchtigen könnten.
Ausbreitung des Fichtenborkenkäfers können Maßnahmen nicht rechtfertigen
Laut Bot hat Polen nicht die zur Erhaltung des Natura-2000-Gebiets Puszcza Białowieska erforderlichen Maßnahmen durchgeführt. Diese Feststellung könne schon aufgrund des Wesens der von den polnischen Behörden ergriffenen Maßnahmen, die zum Verlust eines Teils der Waldbestände geführt hätten, getroffen werden. Außerdem könnten die Maßnahmen nicht mit der Ausbreitung des Fichtenborkenkäfers gerechtfertigt werden, da es unterschiedliche wissenschaftliche Auffassungen zu ihrer Eignung gebe. Schließlich würden sie in einem von den nationalen Behörden im Jahr 2015 verabschiedeten Bewirtschaftungsplan (Plan Zadań Ochronnych, "PZO") als potenzielle Gefahren für die Erhaltung der geschützten Lebensräume und Arten angesehen. Die Maßnahmen hätten potentiell zur Folge, dass diesem PZO die praktische Wirksamkeit genommen werde oder den polnischen Behörden gar ermöglicht werde, dessen Bestimmungen zu missachten.
Keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt
Ferner weist der Generalanwalt nach der Feststellung, dass auch geltend gemacht worden sei, dass die in Rede stehenden Maßnahmen Pläne oder Projekte darstellten, die im Sinne der Habitatrichtlinie nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Natura-2000-Gebiets in Verbindung stünden oder hierfür nicht notwendig seien, darauf hin, dass solche Pläne oder Projekte, wenn sie dieses Gebiet erheblich beeinträchtigen könnten, zunächst Gegenstand einer angemessenen Prüfung ihrer Verträglichkeit mit dem geschützten Gebiet sein müssten, um dann zugelassen werden zu können, wenn sie das Gebiet als solches nicht beeinträchtigten. Aus einer einfachen Analyse der zeitlichen Abfolge der in Rede stehenden Entscheidungen und der Stimmigkeit der vorgelegten Beweisunterlagen ergebe sich, dass die nach der Habitatrichtlinie erforderliche Prüfung nicht habe durchgeführt werden können, was für die Annahme ausreiche, dass Polen gegen seine diesbezüglichen Verpflichtungen aus der Habitatrichtlinie verstoßen habe.
Wissenschaftliche Kontroverse über geeignete Methoden zur Eindämmung des Fichtenborkenkäfers
Im Übrigen führt Bot auch aus, dass jedenfalls den Anforderungen der Habitatrichtlinie an die Prüfung, wie sie vom EuGH ausgelegt worden seien, ebenfalls nicht genügt worden sei, da zum Zeitpunkt des Erlasses der in Rede stehenden Entscheidungen die geeigneten Methoden zur Eindämmung der Ausbreitung des Buchdruckers immer noch Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse gewesen seien.
Vorsorgegrundsatz missachtet
Darüber hinaus sei auch der in die Habitatrichtlinie eingeflossene Vorsorgegrundsatz missachtet worden, da bei Erlass der streitigen Maßnahmen das tatsächliche Vorliegen und die Schwere der potenziellen Gefahr einer Beeinträchtigung der Erhaltung und der Unversehrtheit des Natura-2000-Gebiets Puszcza Białowieska nicht vollständig bekannt, bewertet und gegebenenfalls beseitigt gewesen seien.
Maßnahmen auch nicht durch Gründe der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt
Da die polnischen Behörden sich zur Rechtfertigung des Erlasses und der Durchführung der streitigen Maßnahmen auf Gründe der öffentlichen Sicherheit berufen hätten, betont Bot zudem, dass solche Gründe eine Verträglichkeitsprüfung des Plans oder Projekts mit negativem Ergebnis sowie das Nichtvorhandensein von Alternativlösungen voraussetzten. In diesem Fall müssten die polnischen Behörden auch den Rückgriff auf Alternativ- oder Ausgleichsmaßnahmen zu den beschlossenen und durchgeführten Waldbewirtschaftungsmaßnahmen prüfen. Keine dieser Vorgaben sei aber beachtet worden.