Unternehmen beschäftigte praktisch kein Personal
Bei der Kontrolle eines belgischen Bauunternehmens (Absa) stellte die belgische Sozialinspektion im zugrundeliegenden Fall fest, dass dieses Unternehmen seit mehreren Jahren praktisch kein Personal beschäftigte und sämtliche manuellen Arbeiten von bulgarischen Subunternehmern verrichten ließ. Diese waren in Bulgarien quasi nicht tätig und entsandten Arbeitnehmer, um sie in Belgien im Unterauftrag für Absa arbeiten zu lassen. Dies geschah zum Teil unter Einschaltung von und in Zusammenarbeit mit anderen belgischen Unternehmen. Die Beschäftigung dieser Arbeitnehmer wurde dem für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zuständigen belgischen Träger nicht gemeldet, da die Arbeitnehmer E-101-Bescheinigungen besaßen, die vom zuständigen bulgarischen Träger ausgestellt worden waren und in denen ihre Angliederung an das bulgarische Sozialversicherungssystem bescheinigt wurde.
Erforderliche Anmeldungen waren nicht vorgenommen worden
Die belgischen Behörden ersuchten den zuständigen bulgarischen Träger unter Angabe von Gründen um Widerruf der fraglichen Bescheinigungen, doch dieser ging auf das Ersuchen nicht ein. Die Behörden leiteten sodann Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des Unternehmens in deren Eigenschaft als Arbeitgeber, Angestellte oder Bevollmächtigte ein. Zur Last gelegt wurde den Betroffenen dabei erstens, es veranlasst oder zugelassen zu haben, dass ausländische Staatsangehörige, denen es nicht gestattet oder erlaubt war, sich länger als drei Monate in Belgien aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, arbeiteten, ohne zuvor eine Arbeitserlaubnis dafür erhalten zu haben. Zweitens wurde ihnen vorgeworfen, beim Arbeitsantritt von Arbeitnehmern nicht die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung bei dem für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zuständigen Träger abgegeben haben. Drittens wurden sie beschuldigt, die Arbeitnehmer nicht beim belgischen Amt für soziale Sicherheit versichert zu haben.
Betroffene von belgischem Gericht verurteilt
Mit Urteil vom 10.09.2015 verurteilte der Hof van beroep Antwerpen (Berufungsgerichtshof Antwerpen, Belgien) die Betroffenen und stellte dabei fest, dass die E-101-Bescheinigungen "auf betrügerische Weise durch nicht der Wirklichkeit entsprechende Angaben mit dem Ziel erwirkt wurden, die von der Gemeinschaftsregelung aufgestellten Entsendungsvoraussetzungen zu umgehen und so einen Vorteil zu erlangen, den [die Betroffenen] ohne diese betrügerische Konstruktion nicht erhalten hätten". Der mit der Sache befasste Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof, Belgien) beschloss, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Er möchte wissen, ob ein Gericht des Empfangsmitgliedstaats eine E-101-Bescheinigung für nichtig erklären oder außer Betracht lassen kann, wenn der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung trägt, dass diese Bescheinigung auf betrügerische Weise erwirkt oder in Anspruch genommen wurde.
Generalanwalt verweist auf EuGH-Rechtsprechung
In seinen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe dem Gerichtshof vor, zu urteilen, dass ein Gericht des Empfangsmitgliedstaats nicht an die E-101-Bescheinigung gebunden ist, wenn es feststellt, dass sie betrügerisch erwirkt oder in Anspruch genommen wurde. Dieses Gericht könne dann die Bescheinigung außer Acht lassen. Der Generalanwalt erinnerte zunächst an die ständige Rechtsprechung des EuGH, nach der die E-101-Bescheinigung die Träger des Empfangsmitgliedstaats bindet. Daraus folge, dass ein Gericht in diesem Mitgliedstaat zur Überprüfung der Gültigkeit einer nicht widerrufenen oder für ungültig erklärten Bescheinigung nicht befugt sei. Der Generalanwalt betont jedoch, dass mit der vom Kassationsgerichtshof vorgelegten Frage Neuland betreten werde. Der Gerichtshof sei in der vorliegenden Rechtssache nämlich dazu aufgerufen, zu entscheiden, ob die seiner Rechtsprechung zur Verbindlichkeit der E-101-Bescheinigung zugrunde liegenden Erwägungen auch dann gälten, wenn ein Gericht des Empfangsmitgliedstaats einen Betrug feststelle.
Betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf EU-Recht nicht statthaft
Der Generalanwalt stellt insoweit fest, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht statthaft sei. Dies bedeute, dass sich in einer Situation wie der vorliegenden die Betroffenen nicht auf die fragliche Bescheinigung berufen könnten und dass die allgemeine Regel, wonach der Arbeitnehmer dem Recht des Mitgliedstaats unterliege, in dessen Hoheitsgebiet er seiner Beschäftigung nachgehe, zur Anwendung komme. Die gegenteilige Lösung würde nach Ansicht des Generalanwalts zu einem nicht hinnehmbaren Ergebnis führen. Bliebe es nämlich im Fall eines von einem Gericht des Empfangsmitgliedstaats festgestellten Betrugs bei der Verbindlichkeit der Bescheinigung, könnten zum einen die für den Betrug Verantwortlichen aus ihrem betrügerischen Verhalten Nutzen ziehen und müsste zum anderen das Gericht in bestimmten Fällen den Betrug dulden oder gar billigen.
Betrug im Rahmen kontradiktorischen Verfahrens festzustellen
Außerdem bedrohe der Betrug im Zusammenhang mit der Ausstellung von E-101-Bescheinigungen die Kohärenz der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus stelle die Verwendung von auf betrügerische Weise erwirkten oder in Anspruch genommenen Bescheinigungen eine Art unlauteren Wettbewerb dar und stelle die Gleichheit der Arbeitsbedingungen auf den nationalen Arbeitsmärkten in Frage. Der Generalanwalt stellte jedoch klar, dass der Betrug im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens mit gesetzlichen Verfahrensgarantien für die Betroffenen und unter Beachtung ihrer Grundrechte, insbesondere des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, festgestellt werden müsse. Dabei trügen die zuständigen Behörden die Beweislast für den Betrug. Sie müssten rechtlich hinreichend nachweisen, dass zum einen die Voraussetzungen, aufgrund deren die Bescheinigung ausgestellt worden sei, im gegebenen Fall nicht erfüllt seien (objektives Element) und dass zum anderen die Betroffenen absichtlich verschleiert hätten, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt seien (subjektives Element). Nur unter diesen spezifischen Umständen könne ein Gericht des Empfangsmitgliedstaats einen Betrug bejahen und die Bescheinigung außer Acht bleiben.
Bescheinigung bei Feststellung eines Betrugs außer Acht zu lassen
Schließlich betonte der Generalanwalt in Bezug auf die Rechtsfolgen der Feststellung eines Betrugs, dass sich die Befugnis des Gerichts des Empfangsmitgliedstaats darauf beschränke, die Bescheinigung außer Acht zu lassen, und dass eine solche Feststellung Wirkungen nur gegenüber den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats erzeugen könne.