EuGH-Generalanwalt: Landwirtschaftliche Erzeugerorganisationen können unionsrechtswidrige Kartellverstöße begehen

Nach Ansicht von Generalanwalt des Gerichthofs der Europäischen Union Nils Wahl können landwirtschaftliche Erzeugerorganisationen und ihre Vereinigungen unionsrechtswidrige Kartellverstöße begehen. Dies ist nach seinen Schlussanträgen vom 06.04.2017 insbesondere dann der Fall, wenn unter mehreren Erzeugerorganisationen oder ihren Vereinigungen oder zwischen solchen Organisationen und anderen Akteuren des Marktes Absprachen über den Preis oder die auf den Markt gebrachten Mengen getroffen oder Informationen ausgetauscht werden (Az.: C-671/15).

Bußgelder gegen landwirtschaftliche Erzeugerorganisationen wegen Preisabsprachen verhängt

Die französischen Wettbewerbsbehörden deckten 2007 im Sektor der Erzeugung und Vermarktung von Chicorée Verhaltensweisen auf, die sie für wettbewerbswidrig halten. Es ging im Wesentlichen um Absprachen über den Preis und die auf den Markt gebrachten Mengen und um den Austausch strategischer Informationen. Beteiligt waren Erzeugerorganisationen (EO), Vereinigungen von Erzeugerorganisationen (VEO) sowie verschiedene Verbände und Gesellschaften. Gegen die Beteiligten wurde eine Geldbuße in Höhe von etwa vier Millionen Euro festgesetzt, die diese vor den französischen Gerichten angefochten haben.

EU-Kartellverbot anwendbar?

Die Beteiligten machen geltend, ihre Verhaltensweisen fielen nicht unter das unionsrechtliche Kartellverbot. Nach dem Unionsrecht sei es Aufgabe der EO und VEO, eine nachfragegerechte Erzeugung sicherzustellen und die Erzeugerpreise zu regulieren. Die von den französischen Behörden als wettbewerbswidrig eingestuften Verhaltensweisen seien durch die Wahrnehmung dieser Aufgabe gerechtfertigt. Das mit der Sache befasste Vorlagegericht (Cour de cassation) bat den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren um Klarstellungen zu dieser Frage.

EuGH-Generalanwalt: Bestimmte Maßnahmen der EO/VEO unterliegen nicht dem Wettbewerbsrecht

Generalanwalt Nils Wahl weist zunächst darauf hin, dass die EO und VEO unter anderem die allgemeine Aufgabe hätten, eine nachfragegerechte Erzeugung sicherzustellen, die Produktionskosten zu drosseln und die Erzeugerpreise zu regulieren. Ihnen komme daher bei der Zentralisierung der Vermarktung der Erzeugnisse ihrer Mitglieder eine Schlüsselrolle zu. Es liege in ihrem Wesen, dass bei ihnen kollektive Abstimmung stattfinde. Die Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) hätten nach dem AEU-Vertrag Vorrang vor den Zielen des Wettbewerbs. Deshalb unterlägen bestimmte, für die Erfüllung ihrer Aufgaben unbedingt erforderliche Maßnahmen der EO und VEO nicht dem Wettbewerbsrecht. Zur Erfüllung der ihnen vom EU-Gesetzgeber übertragenen Aufgaben müssten die EO und VEO Formen der Koordinierung und Abstimmung einführen, die nicht den Marktgesetzen unterlägen und daher nicht mit der Idee des Wettbewerbs vereinbar seien. Die Verfolgung solcher Ziele setze voraus, dass die betreffende EO/VEO die Verkaufsbedingungen, insbesondere die Verkaufspreise, tatsächlich kontrolliere.

Nichtgeltung des Wettbewerbsrechts setzt "interne" Verhaltensweisen voraus

Wahl weist jedoch darauf hin, dass die von den EO/VEO getroffenen Maßnahmen nicht bereits deshalb nicht dem Wettbewerbsrecht unterlägen, weil sie mehr oder weniger der Verwirklichung der ihnen durch den EU-Gesetzgeber übertragenen Aufgaben dienten. Vielmehr müssten die Verhaltensweisen den Aufgaben zuzuordnen sein, die den mit der Vermarktung der betreffenden Erzeugnisse betrauten EO, VEO und Branchenverbänden speziell übertragen seien. Die Nichtgeltung des Wettbewerbsrechts, insbesondere des Kartellverbots, setze voraus, dass die betreffenden Verhaltensweisen innerhalb einer EO/VEO erfolgt seien, die tatsächlich mit der Verwaltung der Erzeugung und Vermarktung des betreffenden Erzeugnisses betraut worden sei. Denn sie seien dann mit den Verhaltensweisen einer Gesellschaft oder eines Konzerns vergleichbar, die oder der auf dem betreffenden Markt als eine wirtschaftliche Einheit auftrete. Solche "internen" Verhaltensweisen unterlägen nicht dem Wettbewerbsrecht.

Anderenfalls liegen Verhaltensweisen zwischen wirtschaftlichen Einheiten vor

Verhaltensweisen zwischen EO, zwischen VEO, innerhalb von nicht mit der Vermarktung der Erzeugnisse ihrer Mitglieder betrauten Einheiten oder gar zwischen einer EO/VEO und anderen Arten von Akteuren auf dem Markt unterlägen hingegen dem Wettbewerbsrecht, so Wahl weiter. Denn sie erfolgten zwischen wirtschaftlichen Einheiten, bei denen davon ausgegangen werde, dass sie unabhängig seien. Abgesehen von Interventionsmaßnahmen, die vom EU-Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen seien, unterlägen Absprachen über die Preise, die erzeugten Mengen und die Weitergabe sensibler Geschäftsdaten innerhalb einer Einheit, die von ihren Mitgliedern nicht mit der Vermarktung der Erzeugnisse betraut sei, daher dem Wettbewerbsrecht.

Festsetzung eines Mindestpreises unter Erzeugern unterfällt EU-Kartellverbot

Wahl geht anschließend auf das Kartell ein, das in Frankreich im Chicoréesektor bestanden haben soll. Zu den Absprachen über den Preis für Chicorée stellt er fest, dass die Festsetzung eines Mindestpreises unter Erzeugern unter das unionsrechtliche Kartellverbot falle, und zwar unabhängig davon, ob sie zwischen verschiedenen EO/VEO oder innerhalb ein und derselben EO/VEO erfolge. Denn den EO und VEO sei die Aufgabe übertragen, mit den nachgeordneten Akteuren der Branche (Einzelhandelsunternehmen) für die gesamte Erzeugung einen einheitlichen Preis auszuhandeln, der in Abhängigkeit von den Vermarktungszeiträumen und der Qualität des betreffenden Erzeugnisses variieren könne. Die Festsetzung eines nicht variablen Mindestpreises innerhalb einer EO/VEO ergebe dann per definitionem keinen Sinn mehr.

Mengenabsprachen können EU-Kartellverbot unterfallen

Zu den Absprachen über die auf den Markt gebrachten Mengen führt Wahl aus, dass solche Absprachen, die innerhalb einer EO/VEO im Rahmen von durch die europäischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Produktionsplänen erfolgten, dem Wettbewerbsrecht nicht unterlägen, sofern sie tatsächlich dazu dienten, die Produktion zu regulieren, um die Preise der betreffenden Erzeugnisse zu stabilisieren. Absprachen zwischen mehreren EO und VEO, die auf die Begrenzung und generelle Kontrolle der auf den Markt gebrachten Mengen auf der Ebene des gesamten Chicoréemarkts und damit auf die langfristige Begrenzung der Erzeugung abzielten (wie offenbar im vorliegenden Fall), unterlägen hingegen dem Wettbewerbsrecht.

Austausch über Preise zwischen EO, VEO und anderen Wettbewerbern unterfällt EU-Kartellverbot

Zum Austausch strategischer Informationen stellt Wahl schließlich fest, dass die Aufgaben, die den EO und VEO übertragen seien, den internen Austausch strategischer Informationen implizierten, sodass die Wettbewerbsregeln innerhalb einer EO/VEO generell keine Anwendung fänden. Ein Austausch von Informationen, bei dem unter EO, VEO und anderen Wettbewerbern Preise mitgeteilt würden (wie offenbar im vorliegenden Fall), lasse sich hingegen nicht den EO/VEO übertragenen Aufgaben zuordnen und falle daher unter das Kartellverbot.

EuGH, Schlussanträge vom 06.04.2017 - C-671/15

Redaktion beck-aktuell, 6. April 2017.

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