Bayern missachtet Urteil des VG München
Der Freistaat Bayern weigert sich, eine Entscheidung des VG München (BeckRS 2012, 60373) zu befolgen, die ihn verpflichtet, auf bestimmten Straßen in München, wo die in der Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG festgelegten Grenzwerte für Stickstoffdioxid seit etlichen Jahren teils erheblich überschritten wurden, Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge vorzusehen. Die betreffende rechtskräftige Gerichtsentscheidung wurde von der Deutschen Umwelthilfe erstritten.
VGH München: Zwangsgelder hier nicht ausreichend
Der mit dem Rechtsstreit befasste VGH München stellte fest, dass das einzige im deutschen Recht vorgesehene Zwangsmittel gegenüber der Verwaltung – die Verhängung von Zwangsgeldern – nicht ausreiche, um den Freistaat dazu anzuhalten, der Entscheidung des VG München nachzukommen. Denn die Entrichtung eines Zwangsgelds gehe für den Freistaat nicht mit einer Vermögenseinbuße einher, da der zu zahlende Betrag seiner Staatsoberkasse als Einnahme zufließe.
Zwangshaft für Amtsträger unionsrechtlich geboten?
Der VGH München möchte deshalb vom EuGH wissen, ob die den nationalen Gerichten durch das Unionsrecht auferlegte Pflicht, "alle erforderlichen Maßnahmen" zu treffen, um die Einhaltung der Richtlinie sicherzustellen, die Pflicht umfassen könne, eine freiheitsentziehende Maßnahme wie Zwangshaft zu verhängen. Er führt aus, das deutsche Recht sehe grundsätzlich die Verhängung von Zwangshaft vor. Bei Amtsträgern sei dies aber mangels einer klaren und präzisen gesetzlichen Grundlage nicht möglich.
EuGH-Generalanwalt: Recht auf Freiheit begrenzt Effektivitätsgrundsatz
Nach Ansicht des Generalanwalts kann die Weigerung der Amtsträger des Freistaats Bayern, der fraglichen gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, zwar sowohl für die Gesundheit und das Leben der Menschen als auch für die Rechtsstaatlichkeit gravierende Folgen haben. Auch beeinträchtige eine solche Weigerung das durch die EU-Grundrechtecharta garantierte Grundrecht des Bürgers auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf. Der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts könnten jedoch in der Praxis Grenzen gesetzt sein, und das in der Charta vorgesehene Recht auf Freiheit stelle eine solche Grenze dar. Das durch die Charta garantierte Grundrecht auf Freiheit dürfe nur auf der Grundlage einer klaren und vorhersehbaren gesetzlichen Regelung eingeschränkt werden, die es in Deutschland in Bezug auf Amtsträger offenbar nicht gebe.
Betroffener Personenkreis ungewiss
Laut Saugmandsgaard Øe besteht überdies eine zusätzliche und nicht unerhebliche Ungewissheit in Bezug darauf, welche Personen von der Zwangshaft betroffen sein könnten. Der VGH München habe nämlich mehrere Personen erwähnt, und zwar auf der Ebene des Freistaats den Ministerpräsidenten und den Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz und auf der Ebene des Regierungsbezirks Oberbayern den Regierungspräsidenten und den Regierungsvizepräsidenten. Er habe hinzugefügt, vorsorglich müssten auch Personen einbezogen werden, die im Freistaat und im Regierungsbezirk Oberbayern leitende Positionen bekleideten, weil die verantwortlichen Organe des Freistaats parlamentarische Immunität besäßen, aufgrund deren, falls sie nicht aufgehoben werde, die Verhängung von Zwangshaft leerliefe. Somit könnten sich die wichtigsten Amtsträger auf der Ebene des Freistaats der Zwangshaft entziehen. Gegen hohe Beamte könnte hingegen eine solche Maßnahme verhängt werden. Bei ihnen müsste allerdings noch geprüft werden, ob ihnen zugemutet werden könne, die gerichtliche Entscheidung umzusetzen, obwohl sie der Auffassung ihres Dienstvorgesetzten zuwiderhandeln müssten.
Keine Zwangshaft für Amtsträger ohne klare gesetzliche Grundlage
Der Generalanwalt kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass die Verhängung von Zwangshaft gegen Amtsträger des Freistaats das Grundrecht auf Freiheit verletzen würde, weil es kein entsprechendes Gesetz oder zumindest keine klare und vorhersehbare gesetzliche Regelung gebe. Ungeachtet des Problems der Wirksamkeit des Unionsrechts und insbesondere des mit der speziellen Situation verbundenen Eingriffs in das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf dürfe das nationale Gericht die grundlegenden Erfordernisse des Grundrechts auf Freiheit nicht außer Acht lassen. Deshalb dürfe, so schwerwiegend das Verhalten von Amtsträgern, die sich weigerten, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu befolgen, auch sein möge, die Verpflichtung des nationalen Gerichts, alles in seiner Zuständigkeit liegende zu tun, um einer Richtlinie, insbesondere im Umweltbereich, volle Wirksamkeit zu verschaffen, nicht unter Missachtung des Grundrechts auf Freiheit wahrgenommen werden. Diese Verpflichtung könne mithin nicht so verstanden werden, dass sie es dem Gericht gestatte – oder es gar dazu zwinge –, das Grundrecht auf Freiheit zu verletzen.
Vertragsverletzungsverfahren als Zwangsmittel auf EU-Ebene vorhanden
Saugmandsgaard Øe hebt ferner hervor, dass es Sache des nationalen Gesetzgebers sei, darüber zu befinden, ob er eine solche gesetzliche Regelung treffen wolle. Außerdem gebe es auf europäischer Ebene ein Zwangsmittel, und zwar das Vertragsverletzungsverfahren, das zu finanziellen Sanktionen für den betreffenden Mitgliedstaat führen könne. Der Gerichtshof sei auch bereits mit einer Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Deutschland in Bezug auf die Luftverschmutzung, unter anderem in der Stadt München, befasst.