EU-Bürger begehren Einreiseerlaubnis für algerisches Kind unter ihrer Kafala-Vormundschaft
Zwei im Vereinigten Königreich lebende französische Ehegatten beantragten bei den britischen Behörden eine Einreiseerlaubnis für ein algerisches Kind als Adoptivkind. Die algerischen Behörden hatten ihnen nach den Regelungen der Kafala, einer Einrichtung des Familienrechts einiger Länder mit Korantradition, die Vormundschaft über das Kind, das nach seiner Geburt verlassen worden war, übertragen.
Vorlagegericht: Kind als "Verwandter in gerader absteigender Linie" anzusehen?
Die britischen Behörden verweigerten eine Einreiseerlaubnis. Dagegen legte das Kind Rechtsmittel ein. Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs (Supreme Court of the United Kingdom) bat den EuGH, im Vorabentscheidungsverfahren zu klären, ob das Kind nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG als "Verwandter in gerader absteigender Linie" der Personen angesehen werden könne, die seine Betreuung durch Kafala übernommen hätten.
Richtlinie: Erleichterte Einreise "Verwandter in gerader absteigender Linie"
Die Richtlinie sieht zwei Wege vor, auf denen ein Kind, das kein Unionsbürger ist, in Begleitung von Personen, mit denen ein "Familienleben" besteht, in einen Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten kann. Bei Verwandten in gerader absteigender Linie tritt die Fortsetzung des Familienlebens praktisch automatisch ein, während bei anderen Familienangehörigen, denen der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt oder mit denen er in häuslicher Gemeinschaft lebt, zuvor eine Würdigung der Umstände erforderlich ist.
EuGH-Generalanwalt verneint Vorlagefrage
Nach Ansicht von Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona ist ein Kind, das nur unter der rechtlichen Vormundschaft eines Unionsbürgers im Einklang mit dem Rechtsinstitut der Kafala nach dem Recht Algeriens steht, nicht als dessen Verwandter in gerader absteigender Linie im Sinne der Richtlinie anzusehen. Er legt dar, dass in Algerien die Kafala eine Form der Betreuung sei, bei der sich ein erwachsener Muslim um die Betreuung, die Erziehung und den Schutz eines Kindes kümmere. Dabei übernehme dieser vorübergehend – bis zur Volljährigkeit – die rechtliche Vormundschaft des Kindes, ohne dass diese Form der Betreuung ein Verwandtschaftsverhältnis begründe oder mit einer Adoption gleichzusetzen sei, die in Algerien ausdrücklich verboten sei. Außerdem könne die Kafala aufgehoben werden.
Kafala mangels Begründung eines Abstammungsverhältnisses keine Adoption
Sánchez-Bordona erläutert, dass der Ausdruck "Verwandter in gerader absteigender Linie", der in der Richtlinie als eine besondere Unterkategorie des Begriffs "Familienangehöriger" verwendet werde, ein autonomer Begriff des Unionsrechts sei, der in dessen Rahmen einheitlich auszulegen sei. Nach seiner Auffassung umfasst der Begriff der Verwandten in gerader absteigender Linie sowohl die leiblichen als auch die adoptierten Kinder, da die Adoption rechtlich gesehen in jeglicher Hinsicht als Eltern-Kind-Verhältnis im Sinne eines Abstammungsverhältnisses anzusehen sei. Wenn die Kafala als eine Form der Adoption anzusehen wäre, könnte das Kind demnach als Adoptivkind ein "Verwandter in gerader absteigender Linie" der es aufnehmenden Personen werden. Der Generalanwalt meint allerdings, dass das wesentliche Merkmal, das die Adoption von der Kafala unterscheide, gerade das Abstammungsverhältnis sei. Während durch die Kafala kein Abstammungsverhältnis begründet werde, sei dies bei der Adoption immer der Fall.
Adoption in Algerien verboten
Zum selben Ergebnis führt laut Generalanwalt die Untersuchung der verschiedenen einschlägigen internationalen Rechtsinstrumente, die zum einen die Adoption und zum anderen Maßnahmen zum Schutz von Kindern wie die Kafala regelten, ohne sie an irgendeiner Stelle gleichzusetzen. Zugleich stehe gerade das algerische Recht der Gleichstellung entgegen, weil es diese Form der Betreuung zulasse und zugleich die Adoption verbiete. Die Personen, die das Kind aufnähmen, erhielten lediglich die rechtliche Vormundschaft über es, aber die Kafala bewirke nicht, dass es zu ihrem Verwandten in gerader absteigender Linie werde. Dies schließe es indessen nicht aus, dass die Personen, die das Kind aufnähmen, nach der Begründung der Kafala beschlössen, es zu adoptieren, wenn sie es für sinnvoll hielten und das Recht des entsprechenden Landes es zulasse. Der Generalanwalt hebt hervor, dass diese Lösung, die in einigen Mitgliedstaaten eingeführt worden sei, es ermögliche, dass das letztendlich adoptierte Kind zum Verwandten in gerader absteigender Linie seiner Adoptiveltern werde und dann als solcher in den Mitgliedstaat, in dem diese ihren Wohnsitz hätten, einreisen und sich dort aufhalten könne.
Kind könnte aber sonstiger "Familienangehöriger" sein
Sánchez-Bordona streicht allerdings heraus, dass das betreffende Kind als sonstiger "Familienangehöriger" anzusehen sein könne, wenn die weiteren Voraussetzungen erfüllt seien und das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren durchgeführt worden sei, wobei der Aufnahmemitgliedstaat nach Abwägung des Schutzes des Familienlebens und des Wohls des Kindes dessen Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften erleichtern müsse. Der Umstand, dass der Weg für die Verwandten in gerader absteigender Linie nicht gangbar sei, bedeute keine Einschränkung des Familienlebens – ein Recht, das in der EU-Grundrechtecharta niedergelegt sei –, wenn die in der Richtlinie vorgesehene Alternative es nicht verwehre, einen tatsächlichen rechtlichen Schutz des Familienlebens zu erreichen. Dabei müsse bei allen in Bezug auf das Kind getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen der Schutz des Kindeswohls Vorrang haben.
Verfahren der Würdigung der Umstände wahrt Schutz des Familienlebens
Im Rahmen der Richtlinie könne dieser Schutz auch gewahrt werden, wenn der zweite Weg beschritten werde, der mit der Einführung eines Verfahrens der vorherigen Würdigung einen angemessenen rechtlichen Rahmen für einen wirksamen Schutz des Kindes in der Union biete und zugleich die ursprünglichen Ziele der Einrichtung der Vormundschaft (Kafala) mit dem Recht auf Familienleben in Einklang bringe.
Beschränkende Maßnahmen unter anderem aus Sicherheitsgründen möglich
Die in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen wie etwa die Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts des Familienangehörigen eines Unionsbürgers oder des Unionsbürgers selbst könnten angewandt werden, wenn Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder Fälle von Rechtsmissbrauch oder Betrug vorlägen. Solche Umstände sieht der Generalanwalt vorliegend aber nicht gegeben.
Behördliche Nachforschungen zum Kindeswohl in Verfahren der vorherigen Würdigung
Schließlich weist der Generalanwalt darauf hin, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats in dem bei anderen "Familienangehörigen" anzuwendenden Verfahren der vorherigen Würdigung der Umstände Nachforschungen dazu anstellen könnten, ob in dem Verfahren zur Übertragung der Vormundschaft oder des Sorgerechts das Kindeswohl hinreichend berücksichtigt worden sei.