Haftung auf Schadensersatz für Fahrzeuge mit "Thermofenster"

Nach Ansicht des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof Athanasios Rantos müssen Erwerber eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller haben. Anders als der Bundesgerichtshof ist er der Ansicht, dass die Unionsregelung über die EG-Typgenehmigung die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Fahrzeugs schützt. Im Ausgangsfall geht es um einen Mercedes mit einem "Thermofenster".

Schadensersatzanspruch wegen Thermofenster aus § 823 Abs. 2 BGB?

Der Käufer eines gebrauchten Mercedes C 220 CDI mit einem Thermofenster hat gegen den Hersteller Mercedes-Benz beim LG Ravensburg Klage auf Schadensersatz erhoben. Das LG sieht in dem Thermofenster nach vorläufiger Einschätzung eine unzulässige Abschalteinrichtung, da es offenbar nicht dem Motorschutz diene, sondern nur den Verschleiß des Motors verhindern solle. Da Mercedes-Benz wohl nicht vorsätzlich gehandelt habe, stelle sich die Frage einer deliktischen Haftung wegen fahrlässigen Handelns. Dies würde nach deutschem Recht voraussetzen, dass die Unionsregelung über die EG-Typgenehmigung, nach der solche Abschalteinrichtungen verboten seien, auch darauf abziele, die Interessen eines individuellen Erwerbers zu schützen. Deshalb rief das LG den EuGH an, um klären zu lassen, ob die Regelung individualschützenden Charakter hat. Bejahendenfalls sollte der EuGH auch die Berechnungsmethode für den Ersatzanspruchs klären, insbesondere ob der Nutzungsvorteil auf die Erstattung des Kaufpreises des Fahrzeugs angerechnet werden muss.

EuGH-Generalanwalt bejaht individualschützenden Charakter

EuGH-Generalanwalt Athanasios Rantos ist der Ansicht, dass die Unionsregelung über die EG-Typgenehmigung die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Fahrzeugs schütze, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu erwerben. Denn mit der EG-Übereinstimmungsbescheinigung versichere der Hersteller dem Erwerber, dass das von ihm erworbene Fahrzeug die Anforderungen des Unionsrechts erfüllt. Rantos vertritt außerdem die Auffassung, dass Erwerber eines Fahrzeugs mit einer solchen Abschalteinrichtung einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller haben müssen. Das Unionsrecht verpflichte die Mitgliedstaaten dazu, einen solchen Anspruch vorzusehen. Hierfür müssten die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängen.

Ersatz muss Schaden angemessen sein

Die Modalitäten der Berechnungsmethode seien Sache der Mitgliedstaaten, führt Rantos weiter aus. Allerdings muss dieser Ersatz gemäß dem Effektivitätsgrundsatz dem erlittenen Schaden angemessen sein. Das LG müsse prüfen, inwieweit die Anrechnung des Nutzungsvorteils für die tatsächliche Nutzung des Fahrzeugs - unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs - auf die Erstattung des Kaufpreises dieses Fahrzeugs für den Käufer eine angemessene Entschädigung gewährleisten würde. Insoweit sei es nicht Sache des EuGH zu entscheiden, ob der aus der Nutzung des Fahrzeugs gezogene Vorteil am vollen Kaufpreis des Fahrzeugs zu bemessen sei, ohne dass wegen des aus der Ausstattung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung resultierenden Minderwerts des Fahrzeugs und/oder im Hinblick auf die Nutzung
eines nicht unionsrechtskonformen Fahrzeugs ein Abzug vorgenommen wird.

Originärer Einzelrichter vorlageberechtigt

Bei einer weiteren Vorlagefrage ging es um die Vorlageberechtigung des Einzelrichters. Der originäre Einzelrichter sei gemäß § 348 Abs. 3 Nr. 2 ZPO bei grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache verpflichtet, die Sache der Kammer zu Entscheidung über eine Übernahme vorzulegen. Überwiegend werde eine grundsätzliche Bedeutung bejaht, wenn eine EuGH-Vorlage in Betracht kommt. Laut Generalanwalt dürfe eine nationale Regelung einen Einzelrichter nicht an einer EuGH-Vorlage hindern, indem sie eine Vorlage an eine Zivilkammer vorschreibe.

EuGH, Schlussanträge vom 02.06.2022 - C-100/21

Redaktion beck-aktuell, 2. Juni 2022.