Front Polisario kontrolliert kleinen Teil des Gebiets im Osten
Die Westsahara ist ein Gebiet im Nordwesten Afrikas, das im Norden an Marokko, im Nordosten an Algerien, im Osten und Süden an Mauretanien und im Westen an den Atlantik grenzt. Der größte Teil dieses Gebiets ist derzeit von Marokko besetzt, das es als integralen Bestandteil seines Staatsgebiets betrachtet. Ein kleinerer, im Osten gelegener Teil dieses Gebiets wird vom Front Polisario kontrolliert, einer Organisation, die die Unabhängigkeit der Westsahara anstrebt.
EuGH-Urteil zu Handelsabkommen
Die Europäische Union und Marokko schlossen 1996 ein Assoziationsabkommen, 2006 ein partnerschaftliches Fischereiabkommen und 2012 ein Abkommen zur Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen. Mit Urteil vom 21.12.2016 (BeckRS 2016, 109817) hat der EuGH im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens über eine vom Front Polisario gegen den Rat der Europäischen Union erhobene Klage entschieden und festgestellt, dass die zwischen der EU und Marokko über eine Assoziation beziehungsweise die Liberalisierung des Handels geschlossenen Abkommen auf die Westsahara keine Anwendung finden. Diese Rechtssache betraf jedoch nicht das Fischereiabkommen, sodass der Gerichtshof in seinem Urteil nicht über die Gültigkeit dieses Abkommens entschieden hat.
Freiwilligenorganisation wendete sich an britischen High Court of Justice
Die Western Sahara Campaign ist eine unabhängige Freiwilligenorganisation mit Sitz im Vereinigten Königreich, die das Ziel verfolgt, die Anerkennung des dem saharauischen Volk zustehenden Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern. Sie macht vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court) [Hoher Gerichtshof (England und Wales), Abteilung Queen's Bench (Verwaltungsgericht), Vereinigtes Königreich] geltend, dass das zwischen der EU und Marokko geschlossene Fischereiabkommen sowie die Rechtsakte zu dessen Genehmigung und Durchführung ungültig seien, soweit dieses Abkommen und diese Rechtsakte für das Gebiet der Westsahara und die daran angrenzenden Gewässer gölten.
Western Sahara Campaign moniert Verhalten britischer Behörden
Die Western Sahara Campaign ist daher der Ansicht, die britischen Behörden handelten rechtswidrig, indem sie dieses Abkommen anwendeten, insbesondere, indem sie eine Zollpräferenz für Erzeugnisse aus der Westsahara gewährten, die als Waren mit Ursprung im Königreich Marokko gekennzeichnet seien. Des Weiteren wendet sich Western Sahara Campaign dagegen, dass es den britischen Behörden erlaubt ist, Lizenzen für den Fischfang in den an die Westsahara angrenzenden Gewässern zu erteilen (das Abkommen sieht nämlich vor, dass die Fischereifahrzeuge der Union unter bestimmten Voraussetzungen Fischereitätigkeiten in den Fischereizonen Marokkos ausüben dürfen).
Erstes Ersuchen zur Gültigkeit von EU abgeschlossener völkerrechtlicher Abkommen
Der High Court of Justice möchte vom EuGH zum einen wissen, ob eine Organisation wie die Western Sahara Campaign befugt ist, die Gültigkeit von Unionsrechtsakten wegen Verletzung des Völkerrechts infrage zu stellen, und zum anderen, ob das Fischereiabkommen im Hinblick auf das Unionsrecht gültig ist. Es handelt sich um das erste Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit von der Union abgeschlossener völkerrechtlicher Abkommen sowie der hierzu ergangenen Abschlussakte.
Generalanwalt hält Fischereiabkommen für ungültig
Generalanwalt Wathelet schlägt dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass er die Zuständigkeit besitzt, die Rechtmäßigkeit von der Union abgeschlossener völkerrechtlicher Abkommen zu beurteilen, dass eine Organisation wie Western Sahara Campaign befugt ist, die Rechtmäßigkeit des Fischereiabkommens infrage zu stellen und dass das Fischereiabkommen ungültig ist, da es für das Gebiet der Westsahara und die daran angrenzenden Gewässer gilt.
Geltendmachung von Völkerrechtsregeln durch natürliche und juristische Personen möglich
Was die Frage anbelangt, ob natürliche und juristische Personen im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle eines von der Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Abkommens Regeln des Völkerrechts geltend machen können, vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass die gerichtliche Geltendmachung von Regeln des Völkerrechts dann möglich sein müsse, wenn die Union an diese gebunden sei, sie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau seien und ihre Struktur einer gerichtlichen Kontrolle des beanstandeten Rechtsakts nicht entgegenstehe. Diese Voraussetzungen seien in Bezug auf drei von Western Sahara Campaign geltend gemachte völkerrechtliche Normen erfüllt: (1) das Recht auf Selbstbestimmung, (2) den Grundsatz der dauerhaften Souveränität über die natürlichen Ressourcen, soweit er vorsehe, dass deren Nutzung dem Volk der Westsahara zugutekomme, und (3) die Regeln des humanitären Völkerrechts, die auf den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen zur Nutzung der natürlichen Ressourcen eines besetzten Gebiets anwendbar seien. Der Generalanwalt schließt daraus, dass diese Normen im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle eines von der Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Abkommens geltend gemacht werden können.
Selbstbestimmungsrecht des saharauischen Volkes verletzt
Sodann befasste der Generalanwalt sich mit der Frage, ob das Fischereiabkommen sowie die Rechtsakte zu dessen Genehmigung und Durchführung mit diesen drei Normen vereinbar sind. Er wies zunächst darauf hin, dass dem Volk der Westsahara bisher die Möglichkeit vorenthalten worden sei, sein Recht auf Selbstbestimmung nach Maßgabe der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgestellten Voraussetzungen auszuüben. So sei die Westsahara durch Annexion in das Königreich Marokko eingegliedert worden, ohne dass die Bevölkerung dieses Gebiets ihren freien Willen dazu hätte äußern können. Da Marokko das Fischereiabkommen aufgrund der einseitigen Eingliederung der Westsahara in sein Hoheitsgebiet und der von ihm beanspruchten Hoheitsgewalt über dieses Gebiet abgeschlossen habe, habe das saharauische Volk nicht frei über seine natürlichen Ressourcen verfügt, wie es das Recht auf Selbstbestimmung vorschreibe. Daher verletze die durch die streitigen Rechtsakte eingeführte und umgesetzte Nutzung der Fischereiressourcen durch die Union in den an die Westsahara angrenzenden Gewässern das Selbstbestimmungsrecht des saharauischen Volkes.
Abkommen mit Vorgaben der Verträge unvereinbar
Da der Anspruch auf marokkanische Hoheitsgewalt über die Westsahara auf einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des saharauischen Volkes beruhe, habe die Union ihre Verpflichtung missachtet, keine aus der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts dieses Volkes durch Marokko herrührende rechtswidrige Situation anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung dieser Situation zu leisten. Daher seien das Fischereiabkommen sowie die Rechtsakte zu dessen Genehmigung und Durchführung, soweit sie für das Gebiet der Westsahara und die daran angrenzenden Gewässer gälten, mit den Bestimmungen der Verträge unvereinbar, wonach die Union bei ihrem auswärtigen Handeln die Menschenrechte zu schützen und das Völkerrecht strikt einzuhalten habe.
Keine Rechtfertigung durch Status einer "De-facto-Verwaltungsmacht"
Des Weiteren vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass Marokko als "De-facto-Verwaltungsmacht" beziehungsweise Besatzungsmacht der Westsahara den Abschluss des Fischereiabkommens nicht rechtfertigen könne. Zum einen gebe es den Begriff der De-facto-Verwaltungsmacht im Völkerrecht nicht. Zum anderen sei Marokko zwar die Besatzungsmacht der Westsahara, jedoch stehe die Art und Weise, in der das Fischereiabkommen abgeschlossen worden sei, nicht im Einklang mit den Regeln des humanitären Völkerrechts, die für den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen durch eine Besatzungsmacht gälten, die für das besetzte Gebiet Geltung hätten.
Grundsatz der dauerhaften Souveränität über die natürlichen Ressourcen verletzt
Weiter stellte der Generalanwalt fest, dass der Großteil der Nutzung, die das Fischereiabkommen vorsehe, fast ausschließlich in den an die Westsahara angrenzenden Gewässern stattfinde (die Fangmengen in diesen Gewässern machten rund 91,5% der Gesamtmenge der im Rahmen der durch das Fischereiabkommen eingeführten Nutzung der Fischbestände getätigten Fänge aus). Folglich müsste die finanzielle Gegenleistung, die die Union aufgrund des Fischereiabkommens Marokko gewähre, fast ausschließlich dem Volk der Westsahara zugutekommen. Das Fischereiabkommen biete jedoch nicht die notwendigen rechtlichen Garantien dafür, dass die Nutzung der Fischbestände dem Volk der Westsahara zugutekomme. Das Fischereiabkommen und die weiteren streitigen Rechtsakte genügten mithin weder dem Grundsatz der dauerhaften Souveränität über die natürlichen Ressourcen noch den Regeln des humanitären Völkerrechts, die auf den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen zur Nutzung der natürlichen Ressourcen eines besetzten Gebiets anwendbar seien, und schließlich auch nicht der Verpflichtung der Union, keine aus der Verletzung dieses Grundsatzes und dieser Regeln resultierende rechtswidrige Situation anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung dieser Situation zu leisten.