Syrische Familie begehrte Visa für Asylantrag in Belgien
Ein in Aleppo lebendes syrisches Ehepaar und dessen drei kleine Kinder beantragten Mitte Oktober 2016 bei der belgischen Botschaft in Beirut (Libanon) Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit nach dem EU-Visakodex, um Aleppo verlassen und in Belgien einen Asylantrag stellen zu können. Nach der Antragstellung kehrten sie nach Syrien zurück. Einer der Antragsteller brachte unter anderem vor, er sei von einer bewaffneten Gruppe entführt, geschlagen und gefoltert worden, bevor er schließlich gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Die Antragsteller betonten insbesondere die Verschlechterung der Sicherheitslage in Syrien im Allgemeinen und in Aleppo im Besonderen sowie den Umstand, dass sie aufgrund ihres christlich-orthodoxen Glaubens der Gefahr einer Verfolgung wegen ihrer religiösen Überzeugung ausgesetzt seien. Außerdem hätten sie unter anderem wegen der zwischenzeitlich geschlossenen Grenze zwischen dem Libanon und Syrien keine Möglichkeit, sich in einem der angrenzenden Länder als Flüchtling registrieren zu lassen.
Belgisches Ausländeramt verweigerte Visa
Das belgische Ausländeramt lehnte die Anträge ab. Denn da die Familie ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit beantragt habe, um in Belgien einen Asylantrag zu stellen, habe sie offensichtlich beabsichtigt, sich länger als 90 Tage in Belgien aufzuhalten. Ferner seien die Mitgliedstaaten insbesondere nicht verpflichtet, alle Personen, die eine katastrophale Situation erlebten, in ihr Hoheitsgebiet aufzunehmen.
Belgisches Gericht ruft EuGH an
Die syrische Familie rief daher den belgischen Rat für Ausländerstreitsachen an und beantragte die Aussetzung der Vollziehung der Ablehnungsentscheidungen. Der Rat für Ausländerstreitsachen beschloss im Eilverfahren, dem EuGH Fragen zur Auslegung des Visakodex sowie der Art. 4 ("Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung") und 18 ("Asylrecht") der EU-Grundrechtecharta im Vorabentscheidungsverfahren vorzulegen.
EuGH-Generalanwalt: Humanitäre Visa für Schutzantrag zu erteilen
Nach Ansicht von Generalanwalt Paolo Mengozzi muss ein EU-Staat einem Drittstaatsangehörigen, der aus humanitären Gründen ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit begehrt, ein solches Visum erteilen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Drittstaatsangehörige anderenfalls einer Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 4 der EU-Grundrechtecharta) ausgesetzt wird, und ihm dadurch eine rechtliche Möglichkeit vorenthalten wird, sein Recht auszuüben, in diesem EU-Staat um internationalen Schutz zu ersuchen.
EU-Staaten bei Anwendung des Visakodex an EU-Grundrechtecharta gebunden
Er hält zunächst fest, dass die Situation der betroffenen syrischen Familie in den Regelungsbereich des Visakodex und damit des Unionsrechts falle. Außerdem führten die Behörden der EU-Staaten beim Erlass von Entscheidungen nach dem Visakodex Unionsrecht durch und seien damit verpflichtet, die in der EU-Grundrechtecharta garantierten Rechte zu wahren. Mengozzi betont dabei, dass die in der Charta verankerten Grundrechte den Adressaten der von einer solchen Behörde erlassenen Rechtsakte unabhängig von jeglichem territorialen Kriterium garantiert seien.
Pflicht zur Visumserteilung
Laut Mengozzi sind die EU-Staaten verpflichtet, im Fall einer begründeten Gefahr eines Verstoßes unter anderem gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ein humanitäres Visum auszustellen, und zwar unabhängig davon, ob zwischen der Person und dem ersuchten Mitgliedstaat Verbindungen bestehen. Er widerspricht einer Auslegung des Visakodex, nach der dieser den Mitgliedstaaten eine bloße Ermächtigung erteile, solche Visa auszustellen. Er stützt seine Auffassung sowohl auf den Wortlaut und die Systematik der Bestimmungen des Visakodex als auch auf die Notwendigkeit, dass die EU-Staaten bei der Wahrnehmung ihres Beurteilungsspielraums im Rahmen der Anwendung der Bestimmungen die in der Charta garantierten Rechte wahren. Vor diesem Hintergrund sei der den Mitgliedstaaten zustehende Beurteilungsspielraum notwendigerweise durch das Unionsrecht begrenzt.
Belgien hätte Visa erteilen müssen
Nach Mengozzis Ansicht steht fest, dass die Antragsteller in Syrien zumindest der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung von extremer Schwere ausgesetzt gewesen seien, die eindeutig unter das Verbot nach Art. 4 der Charta falle. Insbesondere in Anbetracht der Informationen, die über die Lage in Syrien verfügbar seien, habe der belgische Staat nicht den Schluss ziehen dürfen, dass er seiner positiven Verpflichtung nach Art. 4 der Charta nicht nachkommen müsse.