EuGH-Generalanwalt: Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers können finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub fordern

Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers können finanzielle Vergütungen für nicht genommenen Urlaub verlangen. Dies gelte auch dann, wenn nationales Recht es ausschließe, dass solche Vergütungen Teil der Erbmasse werden können, so der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, Yves Bot, in seinen Schlussanträgen vom 29.05.2018. Dabei könnten sich die Erben sowohl gegenüber einem öffentlichen als auch einem privaten Arbeitgeber unmittelbar auf das Unionsrecht berufen (Az.: C-569/16 und C-570/16).

Ausgangsklägerinnen fordern Ausgleichszahlungen für nicht genommenen Jahresurlaub ihrer verstorbenen Ehemänner

In den konkreten Fällen ging es um die Klagen zweier Witwen in Deutschland. Sie fordern Ausgleichszahlungen für bezahlten Jahresurlaub, den ihre Ehemänner vor ihrem Tod nicht genommen hatten. Das Bundesarbeitsgericht rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und bat um Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta. Das BAG wies darauf hin, dass der EuGH im Urteil Bollacke (BeckRS 2014, 80975) bereits entschieden habe, dass die Richtlinie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegenstehe, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergehe, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers ende.

Anspruch auf finanziellen Ausgleich trotz Ausschlusses durch das deutsche Erbrecht Teil der Erbmasse?

Das BAG wollte wissen, ob dies auch dann gelte, wenn das einzelstaatliche Recht ausschließe, dass ein solcher finanzieller Ausgleich Teil der Erbmasse werden könne. Nach § 7 Abs. 4 BUrlG in Verbindung mit § 1922 Abs. 1 BGB in der Auslegung durch das BAG gehe der Urlaubsanspruch des Erblassers mit seinem Tod unter, so dass er weder in einen Abgeltungsanspruch umgewandelt noch Teil der Erbmasse werden könne. Nach Ansicht des BAG erlaubten die deutschen Vorschriften keine andere Auslegung. Für den Fall, dass das Unionsrecht einer solchen einzelstaatlichen Regelung entgegenstehen sollte, wollte das BAG weiter wissen, ob sich der Erbe unmittelbar auf das Unionsrecht berufen könne, insbesondere in einem Rechtsstreit zwischen ihm und einem privaten Arbeitgeber.

EuGH-Generalanwalt: Ausschluss der Erben von Ausgleichszahlung verstößt gegen EU-Recht

Bot schlägt vor, zu bestätigen, dass die Richtlinie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie den hier fraglichen entgegenstehe, wonach bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub untergehe und die Zahlung einer solchen Vergütung an die Erben des verstorbenen Arbeitnehmers somit ausgeschlossen sei. Es gebe keinen Grund, die Lösung des EuGH im Urteil Bollacke (BeckRS 2014, 80975) in Frage zu stellen. Bot weist insbesondere darauf hin, dass der EuGH in diesem Urteil die erbrechtlichen Aspekte seiner Entscheidung berücksichtigt habe.

Hinsichtlich Konsequenzen zwischen öffentlichen und privaten Arbeitgebern zu differenzieren

Zu den Konsequenzen führt Bot aus, dass der bloße Umstand, dass ein nationales Gericht eine nationale Vorschrift in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt habe, kein Hindernis für eine unionsrechtskonforme Auslegung darstelle. Für den Fall, dass das BAG weiterhin der Ansicht sein sollte, dass es das nationale Recht nicht unionsrechtskonform auslegen könne, sei zwischen den beiden vorliegenden Fällen zu unterscheiden.

Bei öffentlichen Arbeitgebern unmittelbare Berufung auf Richtlinie möglich

In der Sache C-569/16 könne die Klägerin, da ihr Ehemann bei einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, der Stadt Wuppertal, beschäftigt gewesen sei, ihren Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Urlaub, der ihr unmittelbar kraft der Richtlinie zustehe, ohne Schwierigkeiten gegenüber dieser Körperschaft geltend machen. Das BAG habe dann von der Anwendung jeder entgegenstehenden nationalen Vorschrift abzusehen.

Bei privaten Arbeitgebern keine unmittelbare Berufung auf Richtlinie möglich

In der Sache C-570/16 sei der Fall dagegen komplizierter, da der Ehemann der Klägerin bei einer privatrechtlichen Person beschäftigt gewesen sei. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH könne eine Richtlinie nämlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass diesem gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor einem nationalen Gericht nicht möglich sei.

Aber unmittelbare Berufung auf Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta möglich

Gleichwohl ist nach Ansicht Bots der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wie er nunmehr in Art. 31 Abs. 2 der Charta niedergelegt sei, nicht nur ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union, sondern auch als vollwertiges soziales Grundrecht anzuerkennen. Dieser Artikel der Charta weise die notwendigen Merkmale dafür auf, dass er in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden könne, um die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften auszuschließen, aufgrund deren ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verliere. Denn dieser Artikel habe zwingenden Charakter und sei in dem Sinne eigenständig, dass er keine ergänzende Maßnahme benötige, um Wirkungen unmittelbar gegenüber den Einzelnen zu entfalten.

Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta erfasst auch Anspruch der Erben auf finanziellen Ausgleich

Im Übrigen ergebe sich aus den (auf die Richtlinie verweisenden) Erläuterungen zur Charta, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta jedem Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen garantiere. Wegen dieser Normenverflechtung sei auch das vom EuGH anerkannte und verdeutlichte Recht auf eine finanzielle Vergütung, die einem Arbeitnehmer nach der Richtlinie zustehe, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, als ein durch Art. 31 Abs. 2 der Charta geschütztes Recht anzusehen.

EuGH, Schlussanträge vom 29.05.2018 - C-569/16

Redaktion beck-aktuell, 29. Mai 2018 (dpa).