Ein Afghane, der den Paschtunen angehört, hat in Österreich internationalen Schutz beantragt. Er beruft sich darauf, dass in einem wesentlichen Teil des afghanischen Staatsgebiets die paschtunische Tradition gepflegt werde, bestimmte Familienstreitigkeiten im Weg der Blutfehde zu bereinigen. Seine Familie sei an einer Blutfehde beteiligt, sein Leben wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan daher bedroht, so der Mann.
Der EuGH muss nun entscheiden, ob ihm der Schutzstatus gewährt werden soll. Generalanwalt de la Tour hat am Donnerstag in seinen Schlussanträgen erläutert, dass ein Antrag auf internationalen Schutz, der auf die Zugehörigkeit zu einer "bestimmten sozialen Gruppe" abstellt, nach der Anerkennungsrichtlinie den Nachweis erfordert, dass die Mitglieder der Gruppe angeborene Merkmale oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die bedeutsam für ihre Identität oder ihr Gewissen ist, oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann. Dies bejaht de la Tour hier ohne Weiteres. Denn die Blutfehde werde in patrilinearer Linie von Generation zu Generation weitergegeben. Sie sei damit Teil eines "gemeinsamen Hintergrund[es], der nicht verändert werden kann".
Doch es gibt noch eine zweite Voraussetzung: Der Afghane muss nachweisen, dass die Gruppe "in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird". Ist dies hier erfüllt? Mit der Antwort hierauf tut sich de la Tour deutlich schwerer.
"Andersartigkeit" trotz weit verbreiteter Tradition?
Er setzt zunächst beim Begriff der "sie umgebenden Gesellschaft" an: Dieser beziehe sich auf das menschliche und soziale Umfeld, in dem sich die Gruppe bewegt. Die isolierte Betrachtung des Verfolgers ist mithin nicht relevant, sondern die kollektive Sichtweise der jeweiligen Gesellschaft. Betrachtet sie die Gruppe als andersartig? Und kann es der Andersartigkeit entgegenstehen, wenn die Blutfehde in dem Herkunftsland traditionell weit verbreitet ist? Letzteres möchte der Generalanwalt nicht pauschal bejahen.
Insbesondere die männlichen Mitglieder einer in eine Blutfehde verwickelten Familie könnten nämlich gezwungen sein, sich zu verbergen und damit von der Gesellschaft im Herkunftsland abzusondern, entweder, um der Rache zu entgehen, oder, weil sie sich weigerten, die Ehre und das Ansehen der Familie dadurch zu retten, dass sie ein Recht auf Rache ausüben, wozu sie gewohnheitsrechtlich verpflichtet seien. Gerade diese Isolation könne sie aber der Gesellschaft als "andersartig" erscheinen lassen. Für de la Tour ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Dauer und Schwere der freiwilligen Isolation oder Abschottung, die sehr unterschiedlich sein könnten, seien in den Blick zu nehmen.
Hiermit muss sich dann nach einer Entscheidung des EuGH, der oft der Ansicht des Generalanwalts folgt, gegebenenfalls das vorlegende österreichische Gericht befassen.
Frausein als "angeborenes Merkmal"?
Um die Tragweite des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ging es vor dem EuGH schon mehrmals: Zuletzt im Zusammenhang mit zwei irakischen Frauen, die geltend gemacht hatten, nach ihren Kindes- und Jugendjahren in Europa zu westlich für ihr Herkunftsland zu sein. Der Fokus lag hier aber weniger auf der Andersartigkeit, sondern auf der Vorfrage, ob Frauen und Mädchen überhaupt eine abgrenzbare Gruppe sein können.
Ob die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein "angeborenes Merkmal" im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie darstellt, musste der EuGH Anfang dieses Jahres auch im Fall von Frauen entscheiden, die im Herkunftsland Opfer häuslicher Gewalt waren. Mehr die Frage des "Verfolgtseins" beschäftigte den EuGH bereits 2013 im Fall Homosexueller, die geltend gemacht hatten, in ihrem Heimatland würden homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und mit einer Freiheitsstrafe bedroht.