Ausgangskläger nach 13 Jahren Tätigkeit mit "Selbstständigen-Vertrag" gekündigt
Der Kläger des Ausgangsverfahrens nahm 1999 seine Tätigkeit als Verkäufer bei einem Unternehmen auf, das Fenster und Türen liefert und einbaut. Er wurde auf Provisionsbasis bezahlt. Er erhielt keine Bezahlung für genommenen Urlaub und sein Vertrag enthielt auch keine Regelung über bezahlten Jahresurlaub. 2008 wurde ihm ein Arbeitsvertrag angeboten, doch der Kläger entschied sich dafür selbstständig zu bleiben. Das Unternehmen beendete die Mitarbeit des Klägers mit Wirkung zum Tag der Vollendung seines 65. Lebensjahrs im Oktober 2012. Bis zu diesem Zeitpunkt war er fortlaufend für dieses Unternehmen tätig.
Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend gemacht
Im Dezember 2012 erhob er wegen seiner Entlassung Klage bei einem Arbeitsgericht im Vereinigten Königreich. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde festgestellt, dass er "Arbeitnehmer" im Sinne der Gesetzesvorschriften des Vereinigten Königreichs sei, mit denen die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG umgesetzt werde. Mit der Klage machte er auch Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend. Einer dieser Ansprüche betraf bezahlten Urlaub, auf den er während seiner Tätigkeit für das beklagte Unternehmen Anspruch hatte, den dieses aber nicht gewährt hatte.
Britisches Gericht ruft EuGH an
Der Court of Appeal of England and Wales (Berufungsgericht für England und Wales, Vereinigtes Königreich) hat den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren angerufen und um Auslegung der Richtlinie 2003/88/EG gebeten. In der Richtlinie ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten "die erforderlichen Maßnahmen [treffen], damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen ... erhält". Das Vorlagegericht möchte insbesondere wissen, ob es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hat, mit dem EU-Recht vereinbar sei, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er Anspruch auf Bezahlung hat.
EuGH-Generalanwalt: Arbeitgeber müssen Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Urlaub ermöglichen
Generalanwalt Evgeni Tanchev weist zunächst auf die zahlreichen europäischen und internationalen Rechtsquellen hin, nach denen Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub haben. Mit Blick auf diese Quellen hätten Arbeitgeber entsprechende Möglichkeiten einzurichten, damit die Arbeitnehmer diesen Anspruch ausüben könnten. Eine solche Möglichkeit könne etwa in Form einer speziellen Vertragsklausel über bezahlten Jahresurlaub geschaffen werden oder durch ein rechtlich durchsetzbares Verwaltungsverfahren oder Ähnliches. Ob eine solche Möglichkeit bestanden habe, müssten die nationalen Gerichte entscheiden. Außerdem wäre es mit der Richtlinie unvereinbar, Arbeitnehmer wie den Ausgangskläger zu verpflichten, bei einem Gericht oder einer sonstigen Stelle einen Antrag zu stellen, um einen Arbeitgeber zu zwingen, eine entsprechende Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub einzurichten, so Tanchev weiter. Für diese Ansicht spreche, dass Art. 31 der EU-Grundrechte-Charta jedem Arbeitnehmer ein eindeutiges Recht auf bezahlten Jahresurlaub verleihe. Außerdem dürfe nach der EuGH-Rechtsprechung die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht von Vorbedingungen gleich welcher Art abhängig sein.
Anderenfalls Übertragung des Anspruchs bis zur Ermöglichung der Ausübung des Anspruchs
Laut Tanchev kann sich ein Arbeitnehmer wie der Ausgangskläger auf die Richtlinie berufen, um eine Vergütung für nicht genommenen Urlaub zu erlangen, wenn der Arbeitgeber keine Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub eingerichtet habe oder wenn eine solche Möglichkeit erst nach Verstreichen eines Teils des Arbeitsverhältnisses geschaffen worden sei. Würde Arbeitgebern gestattet, keine Möglichkeit für Arbeitnehmer zur Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub einzurichten, ginge dies über das Ermessen hinaus, das den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub zustehe, und stellte eine rechtswidrige Vorbedingung für die Entstehung des Anspruchs dar. Daher könne ein Arbeitnehmer in dem Fall, dass er den ihm zustehenden Jahresurlaub im Bezugszeitraum ganz oder teilweise nicht nehme, ihn aber genommen hätte, wenn nicht der Arbeitgeber die Vergütung für genommene Urlaubszeiten verweigern würde, geltend machen, dass er an der Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Urlaub gehindert sei, so dass der Anspruch solange übertragen werde, bis der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs gehabt habe.
Anspruch auf Urlaubsabgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, soweit Anspruchsausübung nicht ermöglicht wurde
Ferner stehe dem Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine finanzielle Vergütung für den bezahlten Jahresurlaub zu, den er bis zu dem Tag, an dem ihm der Arbeitgeber eine entsprechende Möglichkeit zur Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub geschaffen habe, nicht genommen habe. Sei eine solche Möglichkeit nie geschaffen worden, sei eine finanzielle Vergütung für die gesamte Dauer der Beschäftigung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschuldet. Das vorlegende Gericht müsse entscheiden, ob das Angebot eines Arbeitsvertrags, das das Unternehmen dem Ausgangskläger 2008 gemacht habe, eine entsprechende Möglichkeit für die Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub dargestellt habe.
Erfordernis der Urlaubnahme vor Möglichkeit der Feststellung eines Anspruchs auf Bezahlung verstößt gegen EU-Recht
Schließlich ist es nach Tanchevs Ansicht mit dem EU-Recht unvereinbar, einen Arbeitnehmer dazu zu verpflichten, Urlaub zu nehmen, ehe er feststellen könne, ob er für die Urlaubszeit bezahlt werde. Andernfalls würde es darauf hinauslaufen, dass von dem Arbeitnehmer aktive Schritte verlangt würden, um die Schaffung einer entsprechenden Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu erreichen. Dies verstieße gegen das EU-Recht. Auch die Durchsetzung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub würde dadurch übermäßig erschwert.