EU-weiter Wolfsschutz: Wie stellt man den maßgeblichen Erhaltungszustand fest?

Der Wolf steht EU-weit unter Schutz. Das schließt seine Jagd nicht überall aus, allerdings sind nach der Habitatrichtlinie dann unter Umständen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott hat jetzt Fragen aus Estland dazu beantwortet.

Die Habitatrichtlinie sieht einen abgestuften Schutz vor: Greift der strenge Schutz nach ihrem Art. 12, so ist die absichtliche Tötung des Wolfs, also auch die Jagd, prinzipiell zu verbieten. In Estland gilt der schwächer ausgeprägte Schutz nach Art. 14 der Habitatrichtlinie. Danach ist die Jagd grundsätzlich zulässig, doch die Mitgliedstaaten müssen Schutzmaßnahmen ergreifen, falls die Aufrechterhaltung eines günstigen Erhaltungszustands gefährdet ist.

Das Oberste Gericht Estlands möchte geklärt wissen, wie man den Erhaltungszustand feststellt. Es fragt, inwieweit die Populationen des Wolfs außerhalb von Estland bei der Beurteilung seines Erhaltungszustands berücksichtigt werden müssen. Kokott geht zunächst davon aus, dass ein Mitgliedstaat bei der Beurteilung des Erhaltungszustands den Austausch zwischen seinen Populationen und Populationen in anderen Staaten berücksichtigen muss. Das Gewicht dieses Austauschs für die prognostische Bewertung des Erhaltungszustands hänge unter anderem davon ab, inwieweit diese anderen Populationen geschützt sind und in welchem Umfang die beiden Staaten beim Schutz der Art zusammenarbeiten.

Weiter fragten die Richterinnen und Richter aus Estland, inwieweit dieser Zustand anhand der Kriterien der Weltnaturschutzunion zu beurteilen ist. Kokott geht davon aus, dass die Kriterien im Rahmen von Art. 14 der Richtlinie 92/43/EWG einzubeziehen sind - "als Teil der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und Methoden". Allerdings könnten die Mitgliedstaaten die Ergebnisse mit besseren wissenschaftlichen Erkenntnissen oder aufgrund konzeptioneller Probleme widerlegen. Auch hält die Generalanwältin sie für nicht verpflichtet, rein hypothetische Annahmen zu übernehmen.

Schließlich thematisierte das Oberste Gericht, ob den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten bei der Prüfung des Erhaltungszustands Rechnung getragen werden kann. Kokott bewertet all dies als Einflüsse, die sich im Sinne der Beurteilung des Erhaltungszustands von Arten nach Art. 1Buchst. i S. 1 der Richtlinie 92/43/EWG langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen von geschützten Arten auswirken können. Art. 1Buchst. i S. 2 schließe es jedoch aus, den Erhaltungszustand einer Art aufgrund dieser Anforderungen und Besonderheiten als günstig anzusehen, solange die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen nicht feststellbar sind.

Generalanwältin Kokott weist noch darauf hin, dass Estland nach dem Berner Übereinkommen in seiner derzeitigen Fassung, zu dem es keinen Vorbehalt erklärt habe, sowohl völkerrechtlich als auch unionsrechtlich verpflichtet sei, den Wolf streng zu schützen (Schlussanträge vom 12.12.2024 C-629/23).

EuGH, Schlussanträge vom 12.12.2024 - C 629/23

Redaktion beck-aktuell, bw, 12. Dezember 2024.