EuGH-Generalanwältin: Französischer Hersteller verwendete unionsrechtlich verbotene Abschalteinrichtung bei Diesel-Kfz

In der EU-Verordnung zur Typgenehmigung für Fahrzeuge nach den Abgasnormen Euro 5 und Euro 6 sind Abschalteinrichtungen grundsätzlich verboten. Die Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof Eleanor Sharpston vertritt in ihren Schlussanträgen vom 30.04.2020 die Auffassung, dass die von einem französischen Hersteller eingesetzte Software eine solche verbotene Abschalteinrichtung war, weil die Vorrichtung bei Zulassungstests von Dieselkraftfahrzeugen einen verstärkenden Einfluss auf die Funktion des Emissionskontrollsystems dieser Fahrzeuge ausübte. Sharpston stellte zudem klar, dass das Ziel, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verzögern, den Einsatz einer solchen Vorrichtung nicht rechtfertigt (Az.: C-693/18).

Ermittlungen gegen Automobilhersteller mit Vertrieb in Frankreich

Das Unternehmen X ist ein Automobilhersteller, der Kraftfahrzeuge in Frankreich vertreibt. Dieses Unternehmen soll Fahrzeuge mit einer Software auf den Markt gebracht haben, die geeignet ist, die Ergebnisse der Zulassungstests in Bezug auf Emissionen von Schadstoffen, wie etwa Stickoxiden (im Folgenden: NOx), zu verfälschen. Infolge von Enthüllungen in der Presse leitete die Pariser Staatsanwaltschaft eine Untersuchung ein, woraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen X in Gang gesetzt wurde. Die mutmaßliche Straftat soll darin bestehen, die Erwerber von Dieselmotorfahrzeugen über wesentliche Eigenschaften dieser Fahrzeuge und über die vor deren Inverkehrbringen durchgeführten Prüfungen getäuscht zu haben.

Emissionen wurden nicht unter realen Fahrbedingungen geprüft

Die fraglichen Fahrzeuge waren mit einem Ventil zur Abgasrückführung (AGR) ausgestattet. Es handelt sich um ein System, das einen Teil der Motorabgase zum Lufteinlass zurückführt, also dorthin, wo die dem Motor zugeführte Frischluft eintritt, um die endgültigen NOx-Emissionen zu verringern. Vor dem Inverkehrbringen wurden die Fahrzeuge in einem Labor Zulassungstests nach einem in Abhängigkeit von verschiedenen technischen Parametern (Temperatur, Geschwindigkeit et cetera) vordefinierten Fahrzyklus (dem New European Driving Cycle) unterzogen. Diese Tests haben unter anderem den Zweck, die NOx-Emissionshöhe und die entsprechende Einhaltung der durch die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 festgelegten Grenzwerte zu überprüfen. Die Emissionen der fraglichen Fahrzeuge waren somit nicht unter realen Fahrbedingungen geprüft worden.

Eingebaute Vorrichtung konnte laut Gutachten Phase des Zulassungstests erkennen

Ein technisches Gutachten, das im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erstellt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass die fraglichen Fahrzeuge über eine Vorrichtung verfügen, die in der Lage ist, die Phasen der Zulassungstests zu erkennen und in der Folge die Funktion des AGR-Systems so anzupassen, dass die vorgeschriebene Emissionsobergrenze eingehalten wird. Umgekehrt führt diese Vorrichtung unter im normalen Fahrbetrieb zu einer (teilweisen) Deaktivierung des AGR-Systems und folglich zu einer Erhöhung der NOx-Emissionen. Der Gutachter erläuterte, dass die Fahrzeuge bis zu 50% weniger NOx erzeugt hätten, wenn das AGR-System bei realem Fahrbetrieb so funktioniert hätte wie bei den Zulassungstests. Die Wartungsarbeiten wären aber bei diesen Fahrzeugen unter anderem aufgrund einer schnelleren Verschmutzung des Motors häufiger und kostspieliger gewesen.

Französischer Untersuchungsrichter rief EuGH an

Der Untersuchungsrichter (Vizepräsident) beim Tribunal de grande instance [jetzt Tribunal judiciaire] de Paris (Frankreich) hegt Zweifel, ob die betreffenden Fahrzeuge den Anforderungen der Verordnung Nr. 715/2007 entsprechen, und insbesondere, ob die oben erwähnte Vorrichtung erlaubt ist. Die Verordnung verbiete nämlich ausdrücklich die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen unter normalen Nutzungsbedingungen verringern. Der nationale Richter hat beschlossen, den Gerichtshof anzurufen, um Klarstellungen insbesondere zur Definition und zur Tragweite der Konzepte "Emissionskontrollsystem" und "Abschalteinrichtung" zu erhalten.

Generalanwältin: Abschalteinrichtung verringert Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems

Das Konzept der "Abschalteinrichtung" im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 bezeichne ein Konstruktionsteil, "das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird", so Generalanwältin Sharpston.

"Emissionskontrollsystem" erfasst auch System zur Reduzierung der Emission bereits bei ihrem Entstehen

Fraglich sei, ob der Begriff "Emissionskontrollsystem" ausschließlich die Technologien und Strategien erfasst, die die Emissionen im Nachhinein (nach ihrem Entstehen) verringern, oder vielmehr auch die Technologien und Strategien, die – wie das AGR-System – die Emissionen im Vorhinein (bei ihrem Entstehen) reduzieren, so Sharpston weiter. Das Unternehmen X hatte für eine enge Auslegung plädiert, die die Tragweite dieses Begriffs auf die nur im Nachhinein wirksamen Technologien und Strategien beschränkt. Sharpston tritt dem entgegen und führt dafür die Ziele des Umweltschutzes und der Verbesserung der Luftqualität innerhalb der Union an.

Vorliegen einer Abschalteinrichtung nicht von Zufällen abhängig

In Bezug auf den Begriff "Abschalteinrichtung" geht die Generalanwältin davon aus, dass eine Vorrichtung, die einen beliebigen Parameter, der mit dem Ablauf der Zulassungsverfahren zusammenhängt, ermittelt, um bei diesen Verfahren die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren oder im Sinne einer Verstärkung zu verändern und somit die Zulassung des Fahrzeugs zu erlangen, eine "Abschalteinrichtung" darstellt, selbst wenn die Veränderung im Sinne einer Verstärkung der Funktion des Emissionskontrollsystems punktuell auch eintreten kann, wenn genau die Bedingungen, die sie auslösen, zufällig unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs auftreten.

Abschalteinrichtungen in eng auszulegenden Ausnahmen zulässig

Schließlich stellt die Generalanwältin fest, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, nach der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässig ist, aber ausnahmsweise genehmigt werden darf, insbesondere wenn "die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten". Sie weist jedoch darauf hin, dass diese Ausnahme eng auszulegen ist. Dabei erfasst diese Ausnahme nach Ansicht der Generalanwältin nur den Schutz des Motors vor dem Eintreten von unmittelbaren und plötzlichen Schäden (und nicht vor langfristigeren Auswirkungen wie Abnutzung oder Wertverlust).

Ziel der Verschleiß- oder Verschmutzungsverzögerung begründet keine Ausnahme

Sie merkt an, dass die Automobilhersteller nach der Verordnung Nr. 715/2007 dafür zu sorgen haben, dass die Fahrzeuge die vorgeschriebenen Emissionsgrenzen während ihres gesamten normalen Betriebs einhalten. Dies impliziere, dass die Fahrzeuge unter Einhaltung dieser Grenzen sicher zu funktionieren haben. Man könne zwar nicht ausschließen, dass die Funktion eines Emissionskontrollsystems die Lebensdauer oder die Zuverlässigkeit des Motors (langfristig) negativ beeinflussen kann, aber dieser Umstand rechtfertige es keineswegs, dieses System beim normalen Fahrzeugbetrieb unter normalen Nutzungsbedingungen zu deaktivieren, nur um den Motor gegen seinen Verschleiß oder seine fortschreitende Verschmutzung zu schützen – was der Verordnung ihre praktische Wirksamkeit nehmen würde.

Abschalteinrichtung nur zu Abwehr unmittelbarer Beschädigungsrisiken gerechtfertigt

Sharpston ist daher der Ansicht, dass nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die die Zuverlässigkeit des Motors beinträchtigen und eine konkrete Gefahr bei der Lenkung des Fahrzeugs darstellen, das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung rechtfertigen können. Nach Ansicht von Generalanwältin Sharpston rechtfertigt das Ziel, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verzögern, nicht den Einsatz einer Abschalteinrichtung.

Nationales Gericht am Zug – Sharpston vermutet Unzulässigkeit konkreter Abschalteinrichtung

Sharpston erläutert, dass es Sache des nationalen Gerichts sein wird, festzustellen, ob die fragliche Vorrichtung unter diese Ausnahme fällt. Sie merkt jedoch an, dass das AGR-System nach den Angaben des von dem nationalen Gericht bestellten Gutachters "den Motor nicht zerstört", aber die Motorleistung bei der Nutzung verschlechtern und seine Verschmutzung beschleunigen kann, wodurch Wartungsarbeiten "häufiger und kostspieliger" würden. Angesichts dieser in dem Gutachten enthaltenen Feststellung ist die Generalanwältin der Auffassung, dass die fragliche Abschalteinrichtung nicht notwendig erscheint, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.

EuGH, Schlussanträge vom 30.04.2020 - C-693/18

Redaktion beck-aktuell, 30. April 2020.