EU-Staaten können für Gesundheitsschäden durch zu hohe Luftverschmutzung haften

Nach Ansicht der Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof Juliane Kokott können Mitgliedstaaten für Gesundheitsschäden durch zu hohe Luftverschmutzung haften. Denn die EU-Grenzwerte und die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Verbesserung der Luftqualität bezweckten, die menschliche Gesundheit zu schützen und dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Allerdings sei ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat wegen zu hoher Grenzwerte an strenge Voraussetzungen geknüpft.

Einwohner des Großraums Paris verklagt Staat

Ein Einwohner des Ballungsraums Paris verlangt vom französischen Staat Schadenersatz in Höhe von insgesamt 21 Millionen Euro, weil die zunehmende Luftverschmutzung in diesem Ballungsraum seine Gesundheit geschädigt habe. Der französische Staat hafte für diese Schäden, weil er nicht dafür gesorgt habe, dass die EU-weit einheitlich geltenden Grenzwerte eingehalten werden. Der Gerichtshof hat 2019 festgestellt, dass die Grenzwerte für Stickstoffdioxid im Ballungsraum Paris ständig überschritten wurden, seitdem sie ab dem Jahr 2010 einzuhalten waren. Auch hat der französische Staatsrat für Paris eine fortdauernde Überschreitung dieser Grenzwerte bis ins Jahr 2020 festgestellt sowie für die Jahre bis 2018 und 2019 eine Überschreitung der Grenzwerte für PM10 (Feinstaub). Das mit dem Rechtsstreit befasste Verwaltungsberufungsgericht von Versailles hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Einzelne für Gesundheitsschäden, die auf die Verletzung der EU-Grenzwerte zurückgehen, vom Staat Schadensersatz verlangen können.

Generalanwältin hält Haftung unter drei Voraussetzungen für möglich

In ihren Schlussanträgen vertritt Generalanwältin Juliane Kokott die Ansicht, dass eine Verletzung der unionsrechtlichen Grenzwerte zum Schutz der Luftqualität Schadensersatzansprüche gegen den Staat begründen könne. Es gälten auch hier die klassischen drei Voraussetzungen für die Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen. Die erste Voraussetzung sei erfüllt, da die durch EU-Richtlinien aufgestellten Grenzwerte für Schadstoffe in der Umgebungsluft und Verpflichtungen zur Verbesserung der Luftqualität bezweckten, Einzelnen Rechte zu verleihen. Der Hauptzweck dieser hinreichend klaren Regelungen bestehe nämlich darin, die menschliche Gesundheit zu schützen. Auch sei der Kreis derjenigen, die womöglich mit Erfolg Schadensersatz verlangen können, nicht so groß, dass fast jeder erfasst würde und man sich gewissermaßen über Steuern gegenseitig Schadensersatz leisten müsse, so Kokott weiter. Tatsächlich belaste die Überschreitung der Grenzwerte vor allem bestimmte Gruppen, die in besonders belasteten Bereichen leben oder arbeiten. Dies seien häufig Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, die besonders auf gerichtlichen Schutz angewiesen seien.

Qualifizierte Verletzung der Regelungen zum Schutz der Luftqualität denkbar

Was zweitens das Vorliegen einer qualifizierten Verletzung der Regelungen über den Schutz der Luftqualität anbelangt, so umfasst sie nach Ansicht der Generalanwältin alle Zeiträume, während deren die jeweils geltenden Grenzwerte überschritten wurden, ohne dass ein Plan zur Verbesserung der Luftqualität vorlag, der keine offensichtlichen Mängel aufwies. Diese Prüfung obliege den innerstaatlichen Gerichten.

Dritte Voraussetzung: Unmittelbarer Kausalzusammenhang

Die tatsächlichen Schwierigkeiten der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen lägen bei der dritten Voraussetzung, so Kokott, nämlich beim Nachweis eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen der qualifizierten Verletzung der Regelungen über die Luftqualität und konkreten Gesundheitsschäden. Der Geschädigte müsse erstens nachweisen, dass er sich über einen ausreichend langen Zeitraum in einer Umgebung aufgehalten hat, in der unionsrechtliche Grenzwerte für die Qualität der Umgebungsluft in qualifizierter Weise verletzt wurden. Die Dauer dieses Zeitraums sei eine medizinische Frage, die einer wissenschaftlichen Beantwortung bedarf. Zweitens müsse er einen Schaden nachweisen, der überhaupt mit der entsprechenden Luftverschmutzung in Verbindung gebracht werden kann. Und drittens müsse der Geschädigte einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen dem erwähnten Aufenthalt an einem Ort, an dem ein Grenzwert für die Qualität der Umgebungsluft in qualifizierter Weise verletzt wurde, und dem geltend gemachten Schaden nachweisen. Dafür werde es regelmäßig medizinischer Gutachten bedürfen.

Zudem Entlastung des Mitgliedstaates möglich

Abschließend weist die Generalanwältin darauf hin, dass mit dem Nachweis eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einer qualifizierten Verletzung der Grenzwerte und einem Gesundheitsschaden noch nicht das letzte Wort gesprochen wäre. Der Mitgliedstaat könne sich vielmehr entlasten, indem er nachweise, dass diese Überschreitungen auch eingetreten wären, wenn er rechtzeitig Luftqualitätspläne erlassen hätte, die den Anforderungen der Richtlinie genügen.

EuGH, Schlussanträge vom 05.05.2022 - C-61/21

Redaktion beck-aktuell, 5. Mai 2022.