EuGH: Fluggastrechte-VO gilt auch bei wegen unzureichender Reisedokumente verweigerter Beförderung

Die Weigerung, einen Fluggast zu befördern, weil dieser angeblich unzureichende Reisedokumente vorgelegt hat, entzieht für sich genommen dem Fluggast nicht den durch die Verordnung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste gewährten Schutz. Im Fall einer Klage des betreffenden Fluggastes müsse das zuständige Gericht beurteilen, ob für die Nichtbeförderung vertretbare Gründe gegeben waren. Dies geht aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 30.04.2020 hervor (Az.: C-584/18).

Airline verweigerte Mitnahme eines Kasachen nach Rumänien

Ein kasachischer Staatsangehöriger hatte sich am 06.09.2015 zum Flughafen von Larnaka (Zypern) begeben, um mit einem Flug der rumänischen Fluggesellschaft Blue Air nach Bukarest (Rumänien) zu fliegen, wo er bis zum 12.09.2015 bleiben wollte. Bei der Kontrolle am Flughafen legte er seinen Reisepass, einen von der Republik Zypern ausgestellten befristeten Aufenthaltstitel, den von ihm zuvor über die Website des rumänischen Außenministeriums elektronisch gestellten Antrag auf Erteilung eines Visums für die Einreise nach Rumänien und die Antwort dieses Ministeriums vor, wonach er kein solches Visum benötige. Die Mitarbeiter des Bodendienstes von Blue Air am Flughafen von Bukarest, die von den Angestellten der Gesellschaft, die im Auftrag von Blue Air am Flughafen von Larnaka handelte, kontaktiert worden waren, teilten dem Kasachen mit, dass er ohne ein nationales Visum nicht nach Rumänien einreisen könne. Ihm wurde daher die Beförderung verweigert. Der Fluggast erhob beim Bezirksgericht Larnaka (Zypern) Klage gegen Blue Air auf Ersatz des Schadens, der ihm infolge dieser Nichtbeförderung entstanden sei.

Zypriotisches Bezirksgericht ruft EuGH an

Vor diesem Hintergrund ersuchte das Bezirksgericht Larnaka den EuGH um Auslegung des Beschlusses über eine vereinfachte Regelung für die Personenkontrollen an den Außengrenzen, des Schengener Grenzkodex (Verordnung (EG) Nr. 562/2006) und der Verordnung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste (Verordnung (EG) Nr. 261/2004). Nach Art. 3 des Beschlusses können die vier Mitgliedstaaten, die dieser Beschluss betrifft, darunter Rumänien, von den anderen betroffenen Mitgliedstaaten ausgestellte Visa und Aufenthaltstitel für Aufenthalte von nicht mehr als 90 Tagen binnen eines Zeitraums von 180 Tagen als ihren einzelstaatlichen Visa gleichwertig anerkennen.

EuGH: Kein Abweichen von Beschluss über vereinfachte Regelung für Personenkontrollen im Einzelfall

Der EuGH hat zunächst entschieden, dass ein von diesem Beschluss betroffener Mitgliedstaat, wenn er sich, wie Rumänien, verpflichtet hat, den Beschluss und die in dessen Art. 3 vorgesehene Regelung anzuwenden grundsätzlich verpflichtet ist, sämtliche in diesem Artikel genannte Dokumente für Aufenthalte, deren Dauer 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen nicht überschreitet, anzuerkennen, und nicht im Einzelfall von dieser Regelung abzuweichen. Daher könne sich ein Drittstaatsangehöriger, der über ein Einreisevisum oder einen Aufenthaltstitel verfügt, die auf diese Weise anerkannt werden, gegenüber diesem Mitgliedstaat auf diese Bestimmung berufen (unmittelbare Wirkung).

Beschluss kann Airline nicht entgegengehalten werden

Hingegen könne der Fluggast den Beschluss nicht dem Luftfahrtunternehmen entgegenhalten, das ihm die Beförderung mit der Begründung verweigert hat, dass die Einreise in den Bestimmungsmitgliedstaat von dessen Behörden verweigert worden sei, da das Luftfahrtunternehmen damit nicht als eine diesem Mitgliedstaat zuzurechnende Einrichtung handelt. Die Aufgabe des Luftfahrtunternehmens sei offenkundig eine andere als die von Grenzschutzbeamten nach dem Schengener Grenzkodex. Es sei nämlich lediglich verpflichtet, sich zu vergewissern, dass der Ausländer über die für die Einreise in das Hoheitsgebiet des Bestimmungsmitgliedstaats erforderlichen Reisedokumente verfügt.

Airline muss Drittstaatsangehörigen schriftliche und begründete Entscheidung über Einreiseverweigerung mitteilen

Des Weiteren hat der Gerichtshof unterstrichen, dass die Einreiseverweigerung gemäß dem Schengener Grenzkodex besonders strengen Formvorschriften unterliegt, durch die insbesondere die Verteidigungsrechte gewahrt werden sollen, und darauf hingewiesen, dass es gegen diesen Kodex verstößt, wenn ein Luftfahrtunternehmen einem Drittstaatsangehörigen die Beförderung verweigert, ohne dass diesem eine schriftliche und begründete Entscheidung über die Einreiseverweigerung mitgeteilt wurde.

Verordnung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste anwendbar

Schließlich hat der EuGH entschieden, dass die Nichtbeförderung wegen angeblich unzureichender Reiseunterlagen für sich genommen dem Fluggast den nach der Verordnung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste gewährten Schutz nicht entzieht. Es liefe nämlich dem Zweck dieser Verordnung, der ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste impliziert, zuwider, dem betreffenden Luftfahrtunternehmen die Befugnis einzuräumen, einseitig und abschließend zu beurteilen und zu entscheiden, ob vertretbare Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, und den betroffenen Fluggästen damit den Schutz zu entziehen, der ihnen nach dieser Verordnung gewährt werden soll. Daher habe im Fall einer Klage das zuständige Gericht zu beurteilen, ob für diese Nichtbeförderung vertretbare Gründe vorliegen.

Airline darf ihre Haftung nicht per AGB ausschließen

Insoweit stehe die Verordnung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste einer Klausel in den allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Luftfahrtunternehmens entgegen, die dessen Haftung für den Fall, dass einem Fluggast die Beförderung wegen angeblich unzureichender Reiseunterlagen verweigert wird, beschränkt oder ausschließt und dem Fluggast damit einen etwaigen Schadenersatzanspruch vorenthält.

EuGH, Urteil vom 30.04.2020 - C-584/18

Redaktion beck-aktuell, 30. April 2020.