Der EuGH hatte heute in zwei Fällen über die Bindungswirkung eines im EU-Ausland zuerkannten Flüchtlingsstatus für Deutschland zu entscheiden. In beiden Fällen hatten deutsche Gerichte gefragt, wie es sich auswirkt, wenn eine schutzsuchende Person in einem anderen Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt ist. Im ersten Verfahren wollte das deutsche Gericht wissen, ob die Anerkennung als Flüchtling in einem anderen EU-Staat einer Auslieferung nach dem europäischen Auslieferungsabkommen entgegensteht. Im zweiten Verfahren ging es um die Frage, ob Deutschland in diesem Fall verpflichtet ist, die Flüchtlingseigenschaft ebenfalls anzuerkennen.
Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik ordnet die Urteile ein: "In beiden Urteilen fordert der EuGH eine enge Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und ihrer Behörden bei Zuerkennungsfragen. Kein Mitgliedstaat kann mehr ohne volle Kenntnis der Entscheidung des anderen Mitgliedstaats autonom entscheiden. Die Bindungswirkung bejaht der EuGH jedenfalls beim Auslieferungsverbot."
Flüchtlingseigenschaft ist absolutes Abschiebungshindernis
Das erste Urteil des EuGH (C-352/22) befasst sich mit einer Vorlagefrage des OLG Hamm. Ein kurdischer Türke, der in Italien als Flüchtling anerkannt ist, sollte an die Türkei ausgeliefert werden, wo ihm der Prozess wegen Totschlags gemacht werden sollte. Das OLG sah zunächst kein Auslieferungshindernis gemäß § 6 Abs. 2 IRG und Art. 3 Abs. 1 und 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens. Dass der Mann in Italien als Flüchtling anerkannt sei, hindere die Auslieferung nicht, da beide Verfahren voneinander getrennt seien. Auf die Verfassungsbeschwerde des kurdischen Türken hin wies das BVerfG das OLG jedoch an, beim EuGH nachzufragen, ob die Flüchtlingseigenschaft in Italien der Auslieferung entgegenstehe.
Das hat der EuGH nun bestätigt. Die Anerkennung als Flüchtling im einen Mitgliedstaat steht der Auslieferung des Betroffenen an sein Herkunftsland durch einen anderen Mitgliedstaat entgegen, heißt es in dem Urteil. Solange die Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, diese nicht wieder aberkennt, darf der Betroffene nicht ausgeliefert werden.
"Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist ein absolutes Auslieferungshindernis", erklärt Hruschka. "Der EuGH hat das deutsche Gericht angewiesen, mit den italienischen Behörden in einen Informationsaustausch zu treten. Deutschland muss den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Flüchtlingsstatus nach Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie abzuerkennen." Art. 14 erlaubt es, unter anderem im Falle schwerer Straftaten die Anerkennung als Flüchtling zu beenden. Solange der Flüchtlingsstatus bestehe, dürfe nicht abgeschoben werden. Denn eine solche Auslieferung würde faktisch bedeuten, dass die Flüchtlingseigenschaft beendet wird, so das Gericht.
Die bestandskräftige Anerkennung als Flüchtling in Italien entfaltet also Bindungswirkung für Deutschland, zumindest bei Auslieferungsanträgen. Will Deutschland dennoch ausliefern, so muss es zunächst die Entscheidung der italienischen Behörde abwarten. Und das ist nicht trivial, wie Hruschka sagt: "Italien müsste auf Deutschlands Ersuchen hin ein vollumfängliches Verfahren durchführen, um die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen. Es gibt keine unmittelbare Aberkennung." Selbst wenn der Flüchtlingsstatus im ersten Mitgliedstaat aufgehoben wurde, müsse Deutschland weiterhin Abschiebeverbote überprüfen, so Hruschka.
Flüchtlingseigenschaft: Eigene Entscheidung, aber Mitgliedstaat darf nicht übergangen werden
Auch im zweiten Fall (C-753/22), den der EuGH heute entschieden hat, ging es um die Bindungswirkung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat. Hier hatte das BVerwG vorgelegt. Eine syrische Frau, die in Griechenland als Flüchtling anerkannt ist, hatte in Deutschland ebenfalls den Flüchtlingsstatus begehrt. Weil ihr aufgrund der Lebensumstände von Flüchtlingen in Griechenland die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung drohte und sie daher dorthin nicht zurückkehren konnte, führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Asylverfahren in Deutschland durch. Dabei kam die Behörde zum Schluss, dass ihr jedoch lediglich subsidiärer Schutz zuzusprechen ist. Als die Syrerin sich gegen den Bescheid wehrte, fragte das BVerwG beim EuGH nach, ob die griechische Anerkennung es gebiete, den Flüchtlingsstatus auch in Deutschland ohne weitere Prüfung zuzuerkennen."Hier hat der EuGH entschieden, dass hinsichtlich des Statuskeine automatische Bindungswirkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft angenommen", erläutert Hruschka. Laut EuGH stehe es den Mitgliedstaaten offen, sowohl den ausländischen Flüchtlingsstatus ohne weiteres anzuerkennen, oder aber eine eigene Prüfung einzuleiten. "Die deutschen Behörden haben sich dazu entschieden, eine eigene Prüfung durchzuführen", sagt Hruschka. "Das hat der EuGH nicht beanstandet." Auch, dass bei der deutschen Prüfung im Ergebnis der Flüchtlingsstatus abgelehnt wurde, war kein Problem.
Allerdings weist der EuGH darauf hin, dass bei einer eigenen Prüfung die Entscheidung des anderen Mitgliedstaats und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigt werden müssen. Das heißt, die Behörde muss sich beim Mitgliedstaat erkundigen, wie dessen Entscheidung zustande kam und dessen Stellungnahme einbeziehen. Die Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat darf nicht bloß als Indiz in die deutsche Behördenentscheidung einfließen.
"Das stützt der EuGH auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV. Wenn deutsche Behörden und Gerichte in einer neuerlichen Prüfung die Entscheidung der ausländischen Behörde vernachlässigen, ist das ein Verfahrensmangel", erklärt Hruschka.
Die Zusammenschau der Urteile wirft noch Fragen auf
Die Entscheidung dürfte bei deutschen Behörden und Verwaltungsgerichten zu einer veränderten Arbeitsweise führen, meint Hruschka. "Bisher fließt die ausländische Zuerkennung nur als Indiz ein. In Zukunft müssen die Entscheidungsgründe der ausländischen Behörde erfragt und vollumfänglich in die deutsche Prüfung einbezogen werden."
In der Zusammenschau der beiden Urteile lasse der EuGH eine Frage aber noch offen. Nach den heutigen Entscheidungen können deutsche Behörden durch eine eigene Prüfung die Flüchtlingseigenschaft verneinen, obwohl sie in einer ausländischen Entscheidung zuerkannt wurde, sofern sie alle Erwägungen des anderen Mitgliedstaats einbezogen haben. Dennoch könnte der Abschiebung dann möglicherweise die ausländische Anerkennung im Weg stehen.
Das musste der EuGH angesichts der Gewährung des subsidiären Schutzes für die Syrerin im vorliegenden Fall nicht entscheiden. "Aus der Entscheidung im Fall C-352/22 lässt sich allerdings ablesen, dass eine Abschiebung ohne vorherige Aberkennung des Flüchtlingsstatus durch die griechischen Behörden vom EuGH wohl als rechtswidrig angesehen würde", so Hruschka. In solchen Fällen dürfte dann auch vor der Aberkennung des Flüchtlingsstatus keine Abschiebungsandrohung erlassen werden, sagt Hruschka unter Verweis auf das Urteil C-484/22 vom Februar 2023.