Asylantrag eines tunesischen Flüchtlingskindes abgelehnt
Die Klägerin ist eine tunesische Staatsangehörige, deren syrischer Vater in der Bundesrepublik Deutschland die Flüchtlingseigenschaft erhielt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag der Klägerin ab. Das in der Revisionsinstanz mit der Klage befasste Bundesverwaltungsgericht meinte, die Klägerin habe zwar keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht, da sie in Tunesien effektiven Schutz erlangen könne. Sie erfülle aber die Voraussetzungen für die Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft zum Schutz der Familie im Asylverfahren für minderjährige ledige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils. Danach sei die Flüchtlingseigenschaft auch einem Kind zuzuerkennen, das in Deutschland geboren worden sei und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitze, in dessen Hoheitsgebiet es nicht verfolgt werde. Das Gericht legte die Sache dem Gerichtshof vor und bat um Klärung, ob eine solche Auslegung des deutschen Rechts mit der EU-Richtlinie 2011/952 (Anerkennnungsrichtlinie) vereinbar sei.
EuGH bejaht Ableitung der Flüchtlingseigenschaft zur Wahrung des Familienverbands
Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem Kind die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen. Dies gelte auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats geboren worden sei und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitze, in dem es nicht Gefahr liefe, verfolgt zu werden. Allerdings dürften keine Ausschlussgründe der Richtlinie vorliegen und das Kind nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat haben als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergebe.
Ableitung vorliegend durch Schutzzusammenhang begründbar
Art. 3 der Richtlinie 2011/95 gestatte es den Mitgliedstaaten, günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling gelte, zu erlassen, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar seien. Erforderlich sei ein Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes. Dieser liege vor, wenn wie hier die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einer als Flüchtling anerkannten Person automatisch auf das minderjährige Kind unabhängig davon erstreckt werde, ob dieses Kind selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft erfülle, und zwar auch dann, wenn es im Aufnahmemitgliedstaat geboren worden sei, wie dies in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschrift zur Wahrung des Familienverbands der Flüchtlinge vorgesehen sei.
Richtlinienvorbehalte müssen beachtet werden
Gleichwohl könne es Situationen geben, in denen die automatische Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft mit der Richtlinie 2011/95 unvereinbar wäre. So würde es zum einen dem in Art. 3 der Richtlinie 2011/95 niedergelegten Vorbehalt zuwider laufen, wenn ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlassen würde, die die Rechtsstellung des Flüchtlings einer Person gewähren, die hiervon nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie ausgeschlossen ist. Zum anderen schließe der Vorbehalt in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 aus, dass die der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden sei, gewährten Leistungen auf einen Familienangehörigen dieser Person erstreckt werden, wenn dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen unvereinbar ist. Im vorliegenden Fall sei nicht ersichtlich, dass die Betroffene aufgrund ihrer tunesischen Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals ihrer persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in Deutschland hätte als die Behandlung, die sich aus der kraft Ableitung vorgenommenen Erstreckung der ihrem Vater zuerkannten Flüchtlingseigenschaft ergebe.
Ausreiseoption der gesamten Familie nach Tunesien irrelevant
Der Gerichtshof hat klargestellt, dass vorliegend die Vereinbarkeit günstigerer nationaler Bestimmungen mit der Richtlinie nicht davon abhänge, ob es der Klägerin und ihren Eltern möglich und zumutbar sei, ihren Aufenthalt in Tunesien zu nehmen. Da Art. 23 der Richtlinie darauf abziele, dem Flüchtling den Genuss der ihm durch die Flüchtlingseigenschaft verliehenen Rechte zu ermöglichen und dabei zugleich seinen Familienverband im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu wahren, könne die für die Familie bestehende Möglichkeit, ihren Aufenthalt in Tunesien zu nehmen, nicht Grundlage dafür sein, den Vorbehalt in Art. 23 Abs. 2 so zu verstehen, dass er es ausschließe, dem Kind die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da eine solche Auslegung bedeuten würde, dass der Vater auf das ihm in Deutschland gewährte Recht auf Asyl verzichten müsste.