Opfer sexueller Gewalt fordert Entschädigung wegen verspäteter Umsetzung der Opferentschädigungsrichtlinie
Die Ausgangsklägerin, eine in Italien lebende italienische Staatsangehörige, wurde im Oktober 2005 in Italien Opfer sexueller Gewalt. Die Täter wurden zu 50.000 Euro Schadensersatz verurteilt. Sie flüchteten jedoch, sodass der Betrag nicht beigetrieben werden konnte. Im Februar 2009 verklagte die Frau daher das Präsidium des Ministerrats auf Wiedergutmachung des Schadens, den sie wegen der nicht rechtzeitigen Umsetzung der Richtlinie 2004/80/EG zur Entschädigung von Straftatopfern durch Italien erlitten habe. Das Präsidium des Ministerrats wurde in erster Instanz verurteilt, 90.000 Euro an die Ausgangsklägerin zu zahlen. In der Berufungsinstanz wurde dieser Betrag auf 50.000 Euro herabgesetzt.
Außervertragliche Haftung hier trotz fehlenden grenzüberschreitenden Charakters anwendbar?
Das Präsidium des Ministerrats legte Kassationsbeschwerde ein. Der damit befasste Kassationsgerichtsgerichtshof wollte vom EuGH wissen, ob die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats auf Opfer vorsätzlicher Gewalttaten, die sich nicht in einer grenzüberschreitenden Situation befinden, wegen der verspäteten Umsetzung der Richtlinie 2004/80/EG durch diesen Mitgliedstaat anwendbar ist. Zum anderen hatte es Zweifel, ob der von der italienischen Regelung über die Entschädigung von Opfern sexueller Gewalt vorgesehene Pauschalbetrag "gerecht und angemessen" im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG ist.
EuGH: Von EU-Staaten zu regelnde Entschädigung muss auch Inlandopfer erfassen
Der EuGH legt zunächst die Voraussetzungen einer unionsrechtlichen Staatshaftung dar. Erste Voraussetzung sei die Verletzung einer unionsrechtlichen Norm, die Einzelnen Rechte verleiht. Der EuGH stellt unter Berücksichtigung des Wortlauts von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG, ihres Kontexts und ihrer Ziele fest, dass die Richtlinie jedem Mitgliedstaat die Pflicht auferlegt, eine Regelung für die Entschädigung aller Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten einzuführen, und nicht nur der Opfer in einem grenzüberschreitenden Fall. Das Recht auf eine angemessene Entschädigung hätten daher auch Opfer, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats haben, in dem die Tat begangen worden sei. Sofern die weiteren Voraussetzungen der unionsrechtlichen Staatshaftung erfüllt seien, habe daher der Einzelne Anspruch auf Entschädigung für die Schäden, die ihm durch den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine sich aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG ergebende Pflicht entstanden seien. Dies gelte unabhängig von der Frage, ob er sich zu dem Zeitpunkt, zu dem er Opfer der fraglichen Tat geworden sei, in einer solchen grenzüberschreiten Situation befand.
Entschädigung darf nicht rein symbolisch sein
Hinsichtlich der Höhe komme den Mitgliedstaaten ein Ermessen zu, da Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG keine Angaben dazu macht, was "gerecht und angemessen" sei. Die Entschädigung müsse zwar nicht unbedingt eine vollständige Wiedergutmachung des von den Opfern vorsätzlicher Gewalttaten erlittenen materiellen und immateriellen Schadens sicherstellen, sie dürfe jedoch in Anbetracht der Schwere der Folgen der begangenen Tat für diese Opfer nicht rein symbolisch oder offensichtlich unzureichend sein. Denn die Entschädigung müsse in adäquatem Umfang das Leid ausgleichen, dem die Opfer ausgesetzt gewesen seien. Eine pauschale Entschädigung könne als "gerecht und angemessen" eingestuft werden, sofern die Entschädigungstabelle hinreichend detailliert sei, um so zu verhindern, dass sich eine für eine bestimmte Art von Gewalt vorgesehene pauschale Entschädigung in Anbetracht der Umstände eines Einzelfalls als offensichtlich unzureichend erweist.