EU-Haftbefehl: Gesetzliche Klagen Betroffener keine "höhere Gewalt"

Der Begriff der höheren Gewalt, die die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unmöglich macht, erstreckt sich nicht auf die rechtlichen Hindernisse, die sich aus gesetzlichen Klagen der gesuchten Person ergeben. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 28.04.2022 entschieden. Wenn die betreffende Person nicht innerhalb der vorgesehenen Fristen übergeben wurde, sei sie freizulassen.

Finnland nimmt zwei Rumänen aufgrund eines EU-Haftbefehle fest

Gegen C und CD, zwei rumänische Staatsangehörige, ergingen 2015 von der rumänischen Justizbehörde ausgestellte Europäische Haftbefehle zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen von fünf Jahren sowie zusätzlicher Strafen von drei Jahren. C und CD waren in Schweden Gegenstand von Verfahren zur Vollstreckung dieser EU-Haftbefehle. Mit im Jahr 2020 erlassenen Entscheidungen ordneten die schwedischen Behörden die Übergabe von C und CD an die rumänischen Behörden an. C und CD verließen Schweden jedoch und begaben sich nach Finnland, bevor diese Übergabeentscheidungen durchgeführt werden konnten. Am 15.12.2020 wurden C und CD in Finnland auf der Grundlage der fraglichen EU-Haftbefehle festgenommen und inhaftiert.

Angeordnete Übergabe ab Rumänien mehrmals verschoben

Mit Entscheidungen vom 16.04.2021 ordnete der Oberste Gerichtshof Finnlands ihre Übergabe an die rumänischen Behörden an. Das Nationale Amt der Kriminalpolizei setzte ein erstes Übergabedatum auf den 07.05.2021 fest. Vor diesem Datum ließ sich die Flugbeförderung von C und CD nach Rumänien aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht organisieren. Ein zweites Übergabedatum wurde auf den 11.06.2021 festgesetzt. Auch diese Übergabe wurde jedoch aufgrund von mit der Flugbeförderung zusammenhängenden Problemen noch einmal verschoben. Ein drittes Übergabedatum wurde für CD auf den 17.06.2021 und für C auf den 22.06.2021 festgesetzt. Allerdings war es wieder unmöglich, die Übergabe durchzuführen, dieses Mal deshalb, weil C und CD Anträge auf internationalen Schutz in Finnland stellten. C und CD erhoben daraufhin Klage und beantragten zum einen, sie freizulassen, da die Frist für die Übergabe abgelaufen sei, und zum anderen, ihre Übergabe aufgrund ihrer Anträge auf internationalen Schutz aufzuschieben. Diese Klagen wurden für unzulässig erklärt.

Übergabe muss kurzfristig erfolgen – Fristverlängerung bei höherer Gewalt

Das Ausgangsverfahren betrifft die Rechtsmittel, die C und CD gegen diese Entscheidungen beim Obersten Gerichtshof eingelegt haben. Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/5841 legt die Regeln fest, die für die Übergabe von aufgrund eines Europäischen Haftbefehls gesuchten Personen gelten, sobald die endgültige Entscheidung, diese Personen zu übergeben, von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats erlassen wurde. Wird die gesuchte Person nicht innerhalb einer sehr kurzen Frist übergeben, so ist sie nach Art. 23 Abs. 5 freizulassen. Ist die Übergabe aufgrund eines Falles von höherer Gewalt nicht möglich, kann diese Frist nach Art. 23 Abs. 3 verlängert werden, vorausgesetzt, dass die vollstreckende Justizbehörde und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich einen neuen Termin für die Übergabe vereinbaren.

Vorlage zum Begriff der höheren Gewalt 

Das vorlegende Gericht wollte zunächst wissen, ob der Begriff höhere Gewalt sich auf rechtliche Hindernisse der Übergabe erstrecke, die sich aus von der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen sei, erhobenen und auf das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gestützten gesetzlichen Klagen ergäben, wenn die endgültige Entscheidung über die Übergabe von der vollstreckenden Justizbehörde erlassen wurde.

EuGH: Klagen der Betroffenen vorhersehbar – Keine höhere Gewalt 

Der EuGH (Az.: C‑804/21 PPU) bestätigt, dass die Erhebung gesetzlicher Klagen durch die Person, gegen die der EU-Haftbefehl ergangen sei, im Rahmen von Verfahren, die im nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgesehen seien, die darauf gerichtet seien, die Übergabe dieser Person an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats anzufechten, oder zur Folge hätten, dass diese Übergabe aufgeschoben wird, nicht als ein unvorhersehbares Ereignis angesehen werden könne. Folglich könnten solche rechtlichen Hindernisse der Übergabe, die sich aus von dieser Person erhobenen gesetzlichen Klagen ergeben, nicht den Tatbestand eines Falles höherer Gewalt erfüllen. Somit könne nicht davon ausgegangen werden, dass die in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Übergabefristen aufgrund von im Vollstreckungsmitgliedstaat anhängigen Verfahren, die von der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen sei, eingeleitet worden seien, ausgesetzt seien, wenn die endgültige Entscheidung über die Übergabe von der vollstreckenden Justizbehörde erlassen wurde. Daher blieben die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats grundsätzlich dazu verpflichtet, diese Person den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats innerhalb der festgesetzten Fristen zu übergeben.

Weitere Fragen zu Erfordernis des Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde

Das vorlegende Gericht wollte sodann zum einen wissen, ob das Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde erfüllt sei, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat einer Polizeibehörde die Aufgabe überträgt zu überprüfen, ob ein Fall von höherer Gewalt vorliege und ob die für die Fortdauer der Haft der betreffenden Person erforderlichen Voraussetzungen eingehalten seien, vorausgesetzt, dass diese Person das Recht habe, jederzeit die vollstreckende Justizbehörde anzurufen, damit diese über die vorgenannten Elemente entscheide. Zum anderen wollte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 23 genannten Fristen als abgelaufen anzusehen sind und die betreffende Person somit freizulassen sei, sofern davon auszugehen sei, dass dem Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde nicht nachgekommen worden ist.

EuGH: Tätigwerden der Polizeibehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht ausreichend

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass das in Art. 23 des Rahmenbeschlusses verlangte Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde dahin, zu prüfen, ob ein Fall höherer Gewalt vorliege, und gegebenenfalls ein neues Übergabedatum festzulegen, nicht einer Polizeibehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats – wie im Ausgangsverfahren dem Nationalen Amt der Kriminalpolizei – übertragen werden dürfe. Die Feststellung eines Falles höherer Gewalt durch die Polizeibehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats sowie die Festlegung eines neuen Übergabedatums, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde tätig werde, genügten nicht den förmlichen Anforderungen, die in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehen seien, und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich ein Fall höherer Gewalt vorliegt. Folglich könnten die in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen in Ermangelung eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde nicht wirksam verlängert werden, sodass diese Fristen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens als abgelaufen anzusehen seien.

Vollstreckungsmitgliedstaat muss nach Freilassung dennoch Flucht verhindern

Der EuGH weist darauf hin, dass aus dem Wortlaut von Wortlaut von Art. 23 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich hervorgehe, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen sei, sofern sie sich noch immer in Haft befinde, freizulassen ist, wenn diese Fristen abgelaufen sind. In einem solchen Fall sei keine Ausnahme von dieser Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgesehen. Angesichts der Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats, das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls fortzusetzen, sei die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats im Fall einer Freilassung der Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen sei, verpflichtet, mit Ausnahme von freiheitsentziehenden Maßnahmen jedwede Maßnahme zu ergreifen, die sie für erforderlich halte, um eine Flucht der betreffenden Person zu verhindern.

EuGH, Urteil vom 28.04.2022 - C‑804/21

Redaktion beck-aktuell, 28. April 2022.