Deutschland unterliegt vor EuGH im Streit um Gaslieferungen aus Russland

Im Streit über eine Ausweitung russischer Erdgaslieferungen hat der Europäische Gerichtshof ein Rechtsmittel Deutschlands gegen ein Urteil des Gerichts der Europäischen Union zurückgewiesen. Die Kommission hätte vor Genehmigung der Änderungen der Bedingungen für den Zugang zur OPAL-Gasfernleitung eventuelle Risiken für die Gasversorgung in Mitgliedstaatenprüfen prüfen müssen, sodass das EuG den Beschluss zu Recht für nichtig erklärt habe.

 

Kommission genehmigte Ausnahme von Gasrichtlinie 

Die Ostseepipeline-Anbindungsleitung (OPAL-Gasfernleitung) ist die westliche terrestrische Anbindung der Gasfernleitung Nord Stream 1, die Gas aus Russland nach Europa transportiert und dabei die "traditionellen" Transitländer wie die Ukraine, Polen und die Slowakei umgeht. Im Jahr 2009 hatte die Europäische Kommission die Entscheidung der Bundesnetzagentur, die OPAL-Gasfernleitung von den Vorschriften der Richtlinie 2003/55/EG (später ersetzt durch die Richtlinie 2009/732) über den Zugang Dritter zum Gasfernleitungsnetz und die Entgeltregulierung auszunehmen, unter bestimmten Bedingungen genehmigt.

Kommission genehmigte Änderung zur Ermöglichung voller Nutzung

Da Gazprom, ein marktbeherrschendes Unternehmen auf dem Gasliefermarkt, eine der Bedingungen der Kommission nie erfüllt hatte, konnte es die OPAL-Gasfernleitung seit ihrer Inbetriebnahme im Jahr 2011 nur zu 50% ihrer Kapazität nutzen. Im Jahr 2016 teilte die Bundesnetzagentur nach einem entsprechenden Antrag, der unter anderem von Gazprom gestellt worden war, der Kommission ihre Absicht mit, bestimmte Bedingungen der 2009 gewährten Ausnahme zu ändern. Durch die beabsichtigte Änderung sollte im Wesentlichen ermöglicht werden, die OPAL-Gasfernleitung mit ihrer vollen Kapazität zu betreiben, unter der Voraussetzung, dass mindestens 50% der Kapazität in Auktionen verkauft werden. Mit Beschluss vom 28.10.2016 genehmigte die Kommission diese Änderung unter bestimmten Bedingungen.

Polen sieht seine Gasversorgungssicherheit bedroht 

Gegen diesen Beschluss erhob Polen Nichtigkeitsklage beim Gericht der Europäischen Union. Polen war der Auffassung, dass der Beschluss seine Gasversorgungssicherheit bedrohe, da ein Teil der Erdgasmengen, die zuvor in den mit OPAL konkurrierenden, durch die Staaten Zentraleuropas, darunter Polen, verlaufenden Gasfernleitungen transportiert worden seien, auf den Transportweg Nord Stream 1/OPAL übertragen werde.

EuG gibt Polens Klage statt

Das Gericht gab dieser Klage statt und erklärte den streitigen Beschluss wegen Verstoßes gegen den in Art. 194 Abs. 1 AEUV verankerten Grundsatz der Energiesolidarität für nichtig. Nach Ansicht des Gerichts hätte die Kommission die Auswirkungen der Änderungen der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung auf die Versorgungssicherheit und die Energiepolitik Polens prüfen müssen.

Rechtsmittel Deutschlands bleibt ohne Erfolg

Deutschland legte gegen die Entscheidung des EuG Rechtsmittel ein, hatte hiermit aber keinen Erfolg. Die Große Kammer des EuGH bestätigt das Urteil des EuG und verweist auf den Grundsatz der Energiesolidarität. Nach Art. 194 Abs. 1 AEUV verfolge die Energiepolitik der EU im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten mehrere Ziele. So sollten das Funktionieren des Energiemarkts und die Energieversorgungssicherheit in der Union sichergestellt sein. Auch sei die Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie die Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und die Förderung der Interkonnektion der Energienetze bezweckt.

EU-Kommission hätte Risiken für Gasversorgung der Mitgliedstaaten prüfen müssen

Der Grundsatz der Solidarität liege allen Zielen der Energiepolitik der EU zugrunde. Deswegen sei die Annahme ausgeschlossen, dass dieser Grundsatz keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeuge. Vielmehr beinhalte er Rechte und Pflichten sowohl für die Union als auch für die Mitgliedstaaten, da die Union zur Solidarität gegenüber den Mitgliedstaaten verpflichtet ist und die Mitgliedstaaten zur Solidarität untereinander und gegenüber dem gemeinsamen Interesse der Union. Entgegen dem Vorbringen Deutschlands sei die Rechtmäßigkeit aller Handlungen der Unionsorgane auf dem Gebiet der Energiepolitik der EU anhand des Grundsatzes der Energiesolidarität zu beurteilen. Das gelte auch dann, wenn das anwendbare Sekundärrecht, im vorliegenden Fall die Richtlinie 2009/738, nicht ausdrücklich auf diesen Grundsatz Bezug nimmt. Folglich ergebe sich aus dem Grundsatz der Energiesolidarität in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass die Kommission beim Erlass eines gemäß der Richtlinie 2009/739 gefassten Beschlusses zur Änderung einer Ausnahmeregelung eventuelle Risiken für die Gasversorgung auf den Märkten der Mitgliedstaaten prüfen muss.

Grundsatz der Energiesolidarität nicht nur in Katastrophenfällen anzuwenden

Der Wortlaut des Art. 194 AEUV beschränke die Anwendung des Grundsatzes der Energiesolidarität nicht auf die in Art. 222 AEUV aufgeführten Situationen eines Terroranschlags, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe, stellt der EuGH weiter fest. Vielmehr erstrecke sich der in Art. 194 Abs. 1 AEUV genannte Geist der Solidarität auf alle Maßnahmen der Energiepolitik der Union. So manifestiere sich die den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten obliegende Pflicht, beim Erlass von Maßnahmen betreffend den Erdgasbinnenmarkt den Grundsatz der Energiesolidarität zu berücksichtigen, indem sie unter anderem für die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit der Union Sorge tragen, dadurch, dass sowohl Maßnahmen für Notfallsituationen als auch vorbeugende Maßnahmen erlassen werden. Die Union und die Mitgliedstaaten müssten bei der Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten in diesem Bereich die betroffenen Energieinteressen abwägen und Maßnahmen vermeiden, die die Interessen der möglicherweise betroffenen Akteure in Bezug auf die Sicherheit und die wirtschaftliche und politische Tragbarkeit der Versorgung sowie die Diversifizierung der Versorgungsquellen beeinträchtigen könnten, um ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und faktischen Solidarität Rechnung zu tragen.

EuGH, Urteil vom 15.07.2021 - C-848/19

Redaktion beck-aktuell, 15. Juli 2021.