Der Wolf stand bisher in der EU unter strengem Schutz. Doch dieses Jahr wurde sein Schutzstatus gesenkt, er ist nach der Habitatrichtlinie nun nur noch "geschützt". Damit soll den Mitgliedstaaten ein flexibleres Management der Wolfspopulationen ermöglicht werden. Will heißen, es soll einfacher sein, Wölfe abzuschießen.
Für die estnische Wolfspopulation galt auch zuvor bereits ein geringerer Schutz, "Entnahmen" waren gemäß Art. 14 der Habitatrichtlinie unter bestimmten Voraussetzungen möglich, wobei auf einen günstigen Erhaltungszustand der Tierart zu achten war, Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie.
Nachdem das estnische Umweltamt für die Jagdsaison 2020/2021 den ersten Teil der Wolfsjagdquote auf 140 Exemplare festgelegt hatte, stellte eine estnische Umweltschutzvereinigung genau das aber infrage: der Erhaltungszustand des Wolfs in Estland sei gerade nicht "günstig".
Wann ist ein Erhaltungszustand "günstig"?
Aber wann ist der Erhaltungszustand einer Art als günstig zu bewerten? Dies knüpft Art. 1 Buchst. i Abs. 2 der Habitatlinie an drei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen. Erstens muss aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen sein, dass diese ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraums, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird. Zweitens darf das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnehmen noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen. Drittens muss ein genügend großer Lebensraum vorhanden sein und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein, um langfristig ein Überleben der Populationen der betreffenden Art zu sichern.
Doch das mit der Sache befasste estnische Gericht konnte daraus nicht lesen, ob es nur auf den Erhaltungszustand des Wolfes in Estland ankommt, oder ob es bei der Bewertung auch die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Populationen (hier: in den baltischen Staaten) berücksichtigen darf.
Außerdem fragte es sich, ob, wie die im Ausgangsverfahren klagende Umweltvereinigung geltend mache, eine Bewertung der Weltnaturschutzunion IUCN einzubeziehen sei, wonach die estnische Wolfspopulation keinen günstigen Erhaltungszustand aufweist.
Populationen in anderen Staaten können berücksichtigt werden
Letztere Frage beantwortet der EuGH eindeutig: Die Einstufung der Population einer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorkommenden Tierart in die Kategorie "gefährdet" der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN schließe nicht aus, den Erhaltungszustand dieser Art im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats als "günstig" im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten.
Zur ersten Frage verhält sich der EuGH nicht ganz so klar. Der günstige Erhaltungszustand müsse "in erster Linie und zwangsläufig auf örtlicher und nationaler Ebene bestehen und bewertet werden". Erstrecke sich das natürliche Verbreitungsgebiet einer geschützten Tierart aber über das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hinaus, dürfe er bei der Bewertung auch berücksichtigen, dass zwischen den benachbarten Populationen ein Austausch stattfindet.
Dabei müsse er allerdings auch in den Blick nehmen, wie maßgeblich der Austausch ist. Hierfür könne zum Beispiel eine Rolle spielen, wie hoch das Rechtsschutzniveau ist, dass die anderen Länder gewährleisten. Auch der Grad der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedsländer sei bedeutsam. Ebenso, ob Veränderungen absehbar sind, die den Austausch der Populationen beeinträchtigen könnten.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Anliegen können einfließen
Abschließend ging der EuGH noch auf eine weitere Frage des vorlegenden Gerichts ein: Dieses hatte darauf hingewiesen, das das estnische Umweltamt im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits stets die Auffassung vertreten habe, dass eine Zunahme der Zahl der Wölfe zu starken sozialen und wirtschaftlichen Spannungen führen würde. Eines der Hauptargumente, die zur Rechtfertigung der Genehmigung der Wolfsjagd vorgebracht werden, sei die Notwendigkeit, die von dieser Tierart verursachten Schäden, insbesondere an den Nutztieren, zu verringern. Insofern sei fraglich, ob bei der Bestimmung des günstigen Erhaltungszustands einer Art auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Erfordernisse sowie regionale und örtliche Besonderheiten berücksichtigt werden können.
Der EuGH bejaht dies, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Der Erhaltungszustand einer Art könne nicht aufgrund dieser Anforderungen und Besonderheiten als günstig angesehen werden, wenn die drei in Art. 1 Buchst. i Abs. 2 der Habitatrichtlinie genannten kumulativen Voraussetzungen nicht erfüllt sind (Urteil vom 12.06.2025 – C-629/23).