Streit um "Eames-Chair": Beerdigt Luxemburg ein Stück Urheberrechtsgeschichte?
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Ein völkerrechtlicher Vertrag aus dem 19. Jahrhundert, der unter anderem auf Victor Hugo zurückgeht, bestimmt bis heute das Urheberrecht. Nun aber hat der EuGH vielleicht sein Ende eingeläutet, erklären Jens Petry und Tom Gaßmann.

Mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Kwantum Nederland und Kwantum Belgie" am Donnerstag gelangte die Revidierte Berner Übereinkunft (RBÜ) zurück ins Bewusstsein breiterer juristischer Kreise (Urteil vom 24.10.2024 - C-227/23). Die RBÜ galt bislang als das bedeutendste völkerrechtliche Abkommen zum Urheberrecht und geht auf die Zeiten Victor Hugos Ende des 19. Jahrhunderts zurück. 

Dem Fall zugrunde lagen die berühmten "Dining Sidechair Wood" Stühle, die das Ehepaar Eames 1948 in den USA entworfen hatte und deren urheberrechtliche Nutzungsrechte heute bei Vitra, einem Unternehmen aus der Schweiz, liegen. Wegen des Vertriebs angeblicher Nachahmungen erhob Vitra Klage gegen die Kwantum Gesellschaften in den Niederlanden und Belgien. Das Verfahren durchlief zwei Instanzen, bis der Oberste Gerichtshof der Niederlande den Fall zur Vorabentscheidung dem EuGH vorlegte. Unter anderem galt es zu klären, ob die RBÜ urheberrechtlichen Ansprüchen nach Unionsrecht entgegenstand. Wenig überraschend gab der EuGH dem Unionsrecht den Vorzug. Was bedeutet das nun für die künftige Geltung der RBÜ?

Entstehungsgeschichte und Grundprinzipien der RBÜ

Nach den Ausführungen des Generalanwaltes in seinen Schlussanträgen hat das Urheberrecht seinen Ursprung "in den königlichen Privilegien […], die Druckern und Verlegern gewährt worden sind". Daraus folge, dass urheberrechtlicher Schutz ursprünglich nur inländischen Urheberinnen und Urhebern oder erstmals im Inland veröffentlichten Werken gewährt wurde.

Die territoriale Beschränkung des Urheberrechtsschutzes führte dazu, dass Werke außerhalb des Landes, in dem sie unter Schutz standen, frei verbreitet und nachgeahmt werden konnten. Um diesen Missstand zu beheben, wurde 1886 die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst mit zehn Unterzeichnerstaaten geschlossen. Große Befürworter waren unter anderem die französischen Schriftsteller Victor Hugo und Honoré de Balzac. Anschließend wurde die Berner Übereinkunft mehrfach revidiert, zuletzt 1971. Stand heute sind 181 Staaten Mitglied der RBÜ.

Der wichtigste Grundsatz der Übereinkunft ist die Inländerbehandlung ausländischer Urheberinnen und Urheber, verbunden mit Mindestrechten, die die Unterzeichnerstaaten ausländischen Werken gewähren müssen. Dementsprechend gewährt Art. 5 Abs. 1 RBÜ Werkschöpferinnen und -schöpfern in allen Verbandsstaaten mit Ausnahme des Ursprungslandes des Werkes die Rechte, die nach ihrem nationalen Recht auch für inländische Urheberinnen und Urheber gelten. Kunstschaffende besitzen damit kein einheitliches Urheberrecht, sondern ein so genanntes "Bündel nationaler Schutzrechte". Inländische Personen können in einem anderen Verbandsstaat mit strengeren Anforderungen an ein Werk weniger geschützt sein, während die Angehörigen des anderen Verbandsstaates im Inland größeren Schutz genießen. 

Die Inländerbehandlung unterliegt gewissen Einschränkungen. Zum Beispiel spielt bei Werken der angewandten Kunst das Prinzip der materiellen Gegenseitigkeit gemäß Art. 2 Abs. 7 RBÜ eine wesentliche Rolle. Vereinfacht ausgedrückt besagt es, dass Werken der angewandten Kunst der urheberrechtliche Schutz versagt werden kann, wenn sie in ihrem Ursprungsland ebenfalls keinen Urheberrechtsschutz genießen, sondern stattdessen lediglich als Muster oder Modelle geschützt sind. Im Fall des "Eames-Chair" vor dem EuGH spielte Art. 2 Abs. 7 RBÜ eine zentrale Rolle. Es ging darum, ob die niederländischen Gerichte der Klägerin nach dieser Vorschrift den urheberrechtlichen Schutz versagen konnten, weil die gegenständlichen Originale in den USA – dem Ursprungsland – lediglich aufgrund einer besonderen Regelung Schutz genossen, namentlich als Muster und Modelle und nicht als Werke der angewandten Kunst.

EuGH stellt klar: Unionsrecht geht vor

Der EuGH erteilte der Anwendbarkeit von Art. 2 Abs. 7 RBÜ nun eine klare Absage. Er entschied, dass der Fall ausschließlich anhand der Richtlinie 2001/29 – der EU-Urheberrechtsrichtlinie – zu beurteilen ist, sofern die Originale als "Werk" im Sinne dieser Richtlinie einzustufen sind. Diese Sichtweise ist nachvollziehbar: Der EuGH verweist darauf, dass der Werk-Begriff der Richtlinie zwangsläufig alle Werke erfasst, deren Schutz in der EU begehrt wird, und dass die Richtlinie keine Einschränkungen hinsichtlich des Ursprungslandes der Werke oder der Staatsangehörigkeit ihrer Urheberinnen und Urheber enthält. Ergänzend macht der Gerichtshof deutlich, dass die in Rede stehenden Rechte des geistigen Eigentums auch durch Art. 17 Abs. 2 GRCh geschützt sind. Daher steht jede Einschränkung dieser Rechte unter dem Gesetzesvorbehalt nach Art. 52 Abs. 1 der Charta.

Wenn man etwas länger über diesen Fall nachdenkt, stolpert man vielleicht darüber, dass die EU selbst kein Unterzeichner der RBÜ ist. Sie ist demnach ohnehin nicht direkt an die RBÜ gebunden. Jedoch hat sich die EU als Vertragspartei des TRIPS-Übereinkommens und des WIPO Copyright Treaty (WCT) an die Wertungen der RBÜ gebunden. Beide gelten als besondere Vereinbarung im Sinne von Art. 20 RBÜ. Art. 3 TRIPS bekräftigt die Anwendbarkeit der Inländerbehandlung vorbehaltlich der in der RBÜ genannten Ausnahmen. Art. 9 Abs. 1 TRIPS schreibt zudem die Einhaltung der Kernbestimmungen der RBÜ vor, wenn auch mit Ausnahmen. Hieraus wurde teilweise abgeleitet, dass die Kernbestimmungen der RBÜ Bestandteil der EU-Rechtsordnung seien. 

Ob und wie sich der EuGH hierzu positioniert, lässt sich erst beantworten, wenn die Entscheidungsgründe vorliegen. Der Generalanwalt scheint diesen Konflikt gesehen zu haben. In seinen Schlussanträgen erläuterte er, dass Art. 2 Abs. 7 RBÜ lediglich eine dispositive Vorschrift sei. Wenn man dem folgt, würden die Gerichte der Mitgliedsstaaten nicht gegen die RBÜ verstoßen, wenn sie Art. 2 Abs. 7 RBÜ nicht beachten und stattdessen ausschließlich Unionsrecht anwenden.

Dilemma: Ein Recht müssen die Mitgliedstaaten brechen

Eine weitere spannende Frage ist, wie sich der EuGH zu Art. 351 Abs. 1 AEUV positioniert. Dies lässt sich den bislang veröffentlichten Materialien nicht entnehmen. Diese Vorschrift war Gegenstand der 5. Vorlagefrage. Art. 351 Abs. 1 AEUV besagt sinngemäß, dass die europäischen Verträge keinen Einfluss auf die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften haben, die ein Mitgliedsstaat vor dem 1.1.1958 abgeschlossen hat. Dies trifft im vorliegenden Fall auf Belgien zu, das Gründungsmitglied der RBÜ war. Folglich wäre Belgien – wie auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten, die Gründungsmitglieder der RBÜ sind – verpflichtet, die Regelungen der RBÜ umzusetzen, selbst wenn es damit gegen Unionsrecht verstieße. Entsprechendes hatte der EuGH in dem Verfahren C-227/10 zu einer vergleichbaren Konstellation bereits entschieden. Im Hinblick auf das Prinzip der materiellen Gegenseitigkeit in Art. 2, Abs. 7 RBÜ wäre Belgien demnach verpflichtet, diese im vorliegenden Verfahren anzuwenden, sofern es sich hierbei nicht – wie vom Generalanwalt vorgeschlagen – um eine dispositive Vorschrift handelt. 

Die Entscheidung des EuGH führt zu einem Spannungsverhältnis für die Mitgliedsstaaten. Einerseits sind sie als Verbandsstaaten der RBÜ und der jeweiligen innerstaatlichen Umsetzung dieser Übereinkunft dazu verpflichtet, die Bestimmungen der RBÜ durchzusetzen. Andererseits wird ihnen dies durch den potenziellen Verstoß gegen übergeordnetes Unionsrecht unmöglich gemacht. Die EU-Mitgliedstaaten haben hier keine Wahl und müssen dem Unionsrecht den Vorrang geben. Dies dient dem Zweck der Harmonisierung, den der EuGH ausdrücklich hervorhebt. Dadurch wird das Risiko einer divergierenden Anwendung des Prinzips der materiellen Gegenseitigkeit nach Art. 2 Abs. 7 RBÜ in den verschiedenen Mitgliedsstaaten gebannt. Nach der Entscheidung des EuGH schützt die Anwendung der Urheberrechtsrichtlinie außereuropäische Urheberinnen und Urheber unmittelbar. Ein Rückgriff auf den Grundsatz der Inländerbehandlung nach der RBÜ ist somit nicht erforderlich.

Was bleibt übrig von der RBÜ?

Im Moment sieht es nicht danach aus, dass der EuGH eine Hintertür für eine direkte Anwendung der RBÜ über das TRIPS-Abkommen, das WCT oder Art. 351 Abs. 1 AEUV noch einmal aufmacht. Ganz ausgeschlossen ist das jedoch nicht. Unter Umständen bleiben Teilbereiche der RBÜ unmittelbar anwendbar, sofern sie Eingang in das Unionsrecht gefunden haben, wie zum Beispiel der Schutzfristenvergleich aus Art. 7 Abs. 8 RBÜ in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2006/116. Indirekt dürfte die RBÜ weiterhin in das Unionsrecht hineinwirken, solange dies im Einklang mit dem Harmonisierungsgedanken steht. Insgesamt schwindet aber die Bedeutung der RBÜ im Anwendungsbereich des Unionsrechts maßgeblich. Victor Hugo wäre hierüber vermutlich niedergeschlagen. Gleichzeitig dürfte er in den Ausführungen des EuGH seine Gedanken wiederfinden, die er einst wie folgt festhielt:

"Das Buch als Buch gehört dem Autor, aber als Gedanke gehört es – der Begriff ist keineswegs zu mächtig – der Menschheit. Jeder denkende Mensch hat ein Recht darauf. Wenn eines der beiden Rechte, das des Autors oder das des menschlichen Geistes, geopfert werden sollte, dann wäre es, zweifellos, das Recht des Autors, denn unsere einzige Sorge gilt dem öffentlichen Interesse, und die Allgemeinheit, das erkläre ich, kommt vor uns."

Jens Petry ist Rechtsanwalt und Partner bei Squire Patton Boggs in Frankfurt. Er vertritt u. a. im Bereich Geistiges Eigentum (IP) Mandanten in Design-, Patent-, Marken- oder Urheberrechtsstreitigkeiten. 

Tom Gaßmann ist ebenfalls Rechtsanwalt und Associate in der Praxisgruppe International Dispute Resolution bei Squire Patton Boggs in Frankfurt.

EuGH, Urteil vom 24.10.2024 - C-227/23

Redaktion beck-aktuell, Jens Petry und Tom Gaßmann, 24. Oktober 2024.