Für einen Verfolgungsgrund und damit die Anerkennung als Flüchtling kann es nach Art. 10 Abs. 1d der Anerkennungsrichtlinie 2011/95 reichen, dass man einer "bestimmten sozialen Gruppe" angehört. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hatte im Falle des Afghanen den EuGH um Auslegung der Flüchtlingseigenschaft gebeten.
"Eine internationalen Schutz beantragende Person, der in ihrem Herkunftsland Blutrache droht, weil sie einer Familie angehört, die in einen Streit vermögensrechtlicher Natur verwickelt ist, [kann] nicht allein aus diesem Grund als einer 'bestimmten sozialen Gruppe' zugehörig betrachtet werden", entschied der EuGH (Urteil vom 27.03.2025 - C-217/23). Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Person im Herkunftsland nicht nur von den in die Blutfehde verwickelten Familien, sondern auch von der sie umgebenden Gesellschaft insgesamt als andersartig betrachtet werde.
Soziale Gruppe: Muss für die Gesellschaft andersartig sein
Laut EuGH kommt es für die Flüchtlingseigenschaft aus diesem Grund darauf an, dass eine Gruppe insbesondere aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland an den Rand der sie umgebenden Gesellschaft gedrängt werde. Anhaltspunkte dafür könnten Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen sein.
Dass Menschen in ihrem Herkunftsland in der Gefahr leben müssen, dass sie oder bestimmte Mitglieder ihrer Familie wegen einer Blutfehde, die aus einem Vermögensstreit entstanden ist, körperlich angegriffen oder getötet werden, begründe daher keine Flüchtlingseigenschaft.
Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt: Subsidiärer Schutz
Im Fall des Afghanen müsste in Österreich jedoch noch geprüft werden, ob er einen Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Den können Menschen haben, die zwar die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllen, aber stichhaltige Gründe dafür vorbringen können, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich Gefahr laufen würden, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dabei geht es um sehr ernsthafte "Schäden" wie die Todesstrafe oder Hinrichtung, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder auch die Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland. Dabei darf man den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder - wegen dieser Gefahr - nicht in Anspruch nehmen wollen.
Für diesen subsidiären Schutz, betont der EuGH, werde nicht danach unterschieden, ob der Schaden auf einen staatlichen oder nichtstaatlichen Verantwortlichen zurückgeht. Eine tatsächliche Drohung gegen die antragstellende Person, durch einen Verwandten oder Angehörigen der Gemeinschaft getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, reiche aus. Ganz unabhängig davon, warum diese Gewalt im Raum steht.