Ausschluss von Rentenansprüchen aus Insolvenzmasse

Ein Mitgliedstaat darf den grundsätzlich vollständigen und automatischen Ausschluss von Rentenansprüchen aus der Insolvenzmasse nicht davon abhängig machen, dass das Altersversorgungssystem, aus dem sich diese Ansprüche ergeben, zuvor in diesem Land steuerlich anerkannt worden ist, wenn das System bereits im Herkunftsmitgliedstaat des zugewanderten Unionsbürgers anerkannt worden war. Dies stellt der Europäische Gerichtshof klar.

Irischer Bauunternehmer baut sich Altersvorsorge

Ein bedeutender Bauunternehmer aus Irland hatte im Dezember 2002 über seine Gesellschaft irischen Rechts (MMC), über die er seine Tätigkeiten ausübte, zu seinen Gunsten ein dem irischen Recht unterliegendes betriebliches Altersversorgungssystem in Form einer dem irischen Recht unterliegenden Versicherung errichtet. Im Juli 2009 gründete er eine neue Gesellschaft irischen Rechts (S Industries), bei der er Geschäftsführer und Angestellter war. Mit öffentlicher Urkunde vom 31.08.2009 errichtete S Industries ihr eigenes dem irischen Recht unterliegendes Altersversorgungssystem, dessen einzige Begünstigte in Wirklichkeit M, seine Ehefrau und sein Sohn waren. Dieses Altersversorgungssystem wurde von den irischen Steuerbehörden als solches anerkannt. Am 07.12.2009 übertrug MMC die Versicherung auf M, seine Ehefrau und MH. Damit wurde diese Versicherung in das Altersversorgungssystem von S Industries integriert. Aufgrund dieser Versicherung sollten zum Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand von M oder seines vorzeitigen Todes Leistungen gezahlt werden.

Ansprüche aus Altersversorgungsversicherung der Insolvenzmasse zuzusprechen?

Infolge der Finanzkrise und wegen des Zusammenbruchs des irischen Immobilienmarkts wurde MMC im November 2010 in Irland liquidiert. Im Juli 2011 ließ sich M mit seiner Ehefrau dauerhaft in London (Vereinigtes Königreich) nieder. Die Gesellschaft S Industries, die seit Dezember 2011 eine Niederlassung in London hatte, wurde im April 2012 ebenfalls im Vereinigten Königreich als ausländische Gesellschaft eingetragen. Da M hohe Schulden angehäuft hatte, wurde vom High Court of Justice auf Antrag von M das Insolvenzverfahren über sein Vermögen eröffnet. Mit bei demselben Gericht gestelltem Antrag forderten die Insolvenzverwalter, die in dem Altersversorgungssystem enthaltenen Ansprüche aus der Versicherung der Insolvenzmasse zuzusprechen. Nach Ansicht der Insolvenzverwalter hatte diese Versicherung am 19.08.2020 einen Wert von 8.462.870,24 Euro, was M bestreitet. 

EuGH: Britische Bestimmungen beschränken Niederlassungsfreiheit

Der EuGH hat entschieden, dass das Unionsrecht einer Bestimmung des Rechts eines Mitgliedstaats entgegenstehen kann, wonach der grundsätzlich vollständige und automatische Ausschluss von Rentenansprüchen aus einem Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse voraussetzt, dass das betreffende System zum Zeitpunkt der Insolvenz in diesem Staat steuerlich anerkannt war. Zumindest dann, wenn der Unionsbürger vor seiner Insolvenz von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und ihm Rentenansprüche aus einem Altersversorgungssystem zustehen, das in seinem Herkunftsmitgliedstaat errichtet und steuerlich anerkannt wurde. Die in dieser nationalen Bestimmung enthaltene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit könne jedoch gerechtfertigt sein, so die Richter weiter, wenn sie auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht, geeignet ist, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. 

In Groß-Britannien meist nur sehr beschränkter Ausschluss von Insolvenzmasse

Der EuGH führt weiter aus, dass die insolvenzrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs den vollständigen und automatischen Ausschluss von Rentenansprüchen aus der Insolvenzmasse davon abhängig machen, dass das Altersversorgungssystem, aus dem sich diese Ansprüche ergeben, zuvor im Vereinigten Königreich steuerlich anerkannt worden ist. Dies werde auch dann verlangt, wenn es sich um ein Altersversorgungssystem handelt, das im Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Unionsbürgers vor seiner dauerhaften Niederlassung im Vereinigten Königreich errichtet und bereits anerkannt wurde. Da diese Systeme aber de facto im Regelfall nicht im Vereinigten Königreich steuerlich anerkannt werden, komme auf die Ansprüche aus diesen Systemen meistens nur eine Regelung zur Anwendung, die einen deutlich begrenzteren Ausschluss von der Insolvenzmasse vorsieht, nämlich einen teilweisen und im Ermessen stehenden Ausschluss.

Mittelbare Diskriminierung bewirkt verbotene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

Unter diesen Umständen entscheidet der EuGH, dass die in Rede stehende nationale Regelung als mittelbar diskriminierend anzusehen ist und gegen die in Art. 49 AEUV festgelegte Gleichbehandlungsregel verstößt. Sie stelle daher eine nach dieser Bestimmung verbotene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, sofern diese Beschränkung unionsrechtlich gerechtfertigt ist. Im Zuge der Prüfung dieser Frage weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine solche Beschränkung einer durch den AEUV verbürgten Grundfreiheit nur zulässig ist, wenn die fragliche nationale Maßnahme auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruht, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Zwingender Grund des Allgemeininteresses wohl zu präzisieren

Insoweit ist der EuGH der Auffassung, dass vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht ein solcher zwingender Grund des Allgemeininteresses zwar möglicherweise besteht. Dieser scheine jedoch einer Präzisierung zu bedürfen, wenn man das spezielle Ziel der nationalen Regelung berücksichtige, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen einem angemessenen Schutz der Interessen des Insolvenzschuldners und dem Schutz der finanziellen Interessen der Gläubiger des Insolvenzschuldners sicherzustellen. Es sei daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob, was Altersversorgungssysteme betrifft, die bereits in einem Mitgliedstaat der Union, nicht aber im Vereinigten Königreich steuerlich anerkannt sind, das Erfordernis einer zusätzlichen und vor der Insolvenz erfolgenden Anerkennung solcher Altersversorgungssysteme durch die britischen Steuerbehörden als Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit die betreffenden Rentenansprüche für den in der nationalen Regelung vorgesehenen grundsätzlich vollständigen und automatischen Ausschluss in Betracht kommen, in angemessenem Verhältnis zu dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel steht.

EuGH, Urteil vom 11.11.2021 - C-168/20

Redaktion beck-aktuell, 11. November 2021.