Be­reit­schafts­zeit ist nur aus­nahms­wei­se voll­um­fäng­lich Ar­beits­zeit
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Eine Be­reit­schafts­zeit in Form von Ruf­be­reit­schaft etwa eines Feu­er­wehr­man­nes stellt laut Eu­ro­päi­schem Ge­richts­hof nur dann in vol­lem Um­fang Ar­beits­zeit dar, wenn die dem Ar­beit­neh­mer auf­er­leg­ten Ein­schrän­kun­gen seine Mög­lich­keit, wäh­rend die­ser Zeit seine Frei­zeit zu ge­stal­ten, ganz er­heb­lich be­ein­träch­ti­gen. Or­ga­ni­sa­to­ri­sche Schwie­rig­kei­ten, die eine Be­reit­schafts­zeit in­fol­ge na­tür­li­cher Ge­ge­ben­hei­ten oder der frei­en Ent­schei­dung des Ar­beit­neh­mers für ihn mit sich brin­gen kann, seien un­er­heb­lich.

Be­reit­schafts­zeit eines Frank­fur­ter Feu­er­wehr­man­nes

In der Rechts­sa­che C-580/19 war ein Be­am­ter in der Stadt Of­fen­bach am Main als Feu­er­wehr­mann tätig. Neben sei­ner re­gu­lä­ren Dienst­zeit muss­te er re­gel­mä­ßig Be­reit­schafts­zei­ten in Form von Ruf­be­reit­schaft leis­ten. Wäh­rend die­ser Zei­ten war er nicht ver­pflich­tet, sich an einem von sei­nem Ar­beit­ge­ber be­stimm­ten Ort auf­zu­hal­ten, muss­te aber er­reich­bar und in der Lage sein, im Alarm­fall in­ner­halb von 20 Mi­nu­ten in sei­ner Ein­satz­klei­dung und mit dem ihm zur Ver­fü­gung ge­stell­ten Ein­satz­fahr­zeug die Stadt­gren­zen zu er­rei­chen. In der Rechts­sa­che C-344/19 war ein spe­zia­li­sier­ter Tech­ni­ker damit be­traut, wäh­rend meh­re­rer auf­ein­an­der­fol­gen­der Tage den Be­trieb von Fern­seh­sen­de­an­la­gen in den slo­we­ni­schen Ber­gen si­cher­zu­stel­len. Neben sei­nen zwölf Stun­den re­gu­lä­rer Ar­beits­zeit leis­te­te er täg­lich sechs Stun­den Be­reit­schafts­dienst in Form von Ruf­be­reit­schaft. Wäh­rend der Ruf­be­reit­schaft muss­te er er­for­der­li­chen­falls in­ner­halb einer Stun­de am Ar­beits­platz sein. De facto war er in An­be­tracht der geo­gra­fi­schen Lage der schwer zu­gäng­li­chen Sen­de­an­la­gen ge­zwun­gen, sich wäh­rend sei­ner Be­reit­schafts­diens­te ohne große Frei­zeit­mög­lich­kei­ten in einer von sei­ner Ar­beit­ge­be­rin zur Ver­fü­gung ge­stell­ten Dienst­un­ter­kunft auf­zu­hal­ten. 

Voll­um­fäng­li­che An­er­ken­nung als Ar­beits­zeit be­gehrt

Die bei­den Be­trof­fe­nen waren der An­sicht, dass ihre in Form von Ruf­be­reit­schaft ge­leis­te­ten Be­reit­schafts­zei­ten auf­grund der mit ihnen ver­bun­de­nen Ein­schrän­kun­gen in vol­lem Um­fang als Ar­beits­zeit an­zu­er­ken­nen und ent­spre­chend zu ver­gü­ten seien, un­ab­hän­gig davon, ob sie wäh­rend die­ser Zei­ten tat­säch­lich tätig waren. Der erste Be­trof­fe­ne legte, nach­dem seine Klage in ers­ter und zwei­ter In­stanz ab­ge­wie­sen wor­den war, Re­vi­si­on beim Obers­ter Ge­richts­hof Slo­we­ni­ens ein. Der zwei­te Be­trof­fe­ne erhob Klage beim Ver­wal­tungs­ge­richt Darm­stadt, nach­dem sein Ar­beit­ge­ber sei­nem An­trag nicht ent­spro­chen hatte.

EuGH: Be­reit­schafts­zeit kann Ar­beits­zeit oder Ru­he­zeit sein

Der Ge­richts­hof, der mit zwei Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen die­ser Ge­rich­te be­fasst ist, stellt in zwei Ur­tei­len der Gro­ßen Kam­mer ins­be­son­de­re klar, in­wie­weit Be­reit­schafts­zei­ten in Form von Ruf­be­reit­schaft als "Ar­beits­zeit" oder als "Ru­he­zeit" im Sinn der Richt­li­nie 2003/881 ein­zu­stu­fen sind. Ein­lei­tend weist er dar­auf hin, dass die Be­reit­schafts­zeit eines Ar­beit­neh­mers ent­we­der als "Ar­beits­zeit" oder als "Ru­he­zeit" im Sinn der Richt­li­nie 2003/88 ein­zu­stu­fen ist, da beide Be­grif­fe ein­an­der aus­schlie­ßen. Au­ßer­dem stel­le eine Zeit­span­ne, in der ein Ar­beit­neh­mer tat­säch­lich keine Tä­tig­keit für sei­nen Ar­beit­ge­ber aus­übt, nicht zwangs­läu­fig eine "Ru­he­zeit" dar. So gehe aus der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs ins­be­son­de­re her­vor, dass eine Be­reit­schafts­zeit au­to­ma­tisch als "Ar­beits­zeit" ein­zu­stu­fen ist, wenn der Ar­beit­neh­mer wäh­rend die­ser Zeit ver­pflich­tet ist, an sei­nem Ar­beits­platz, der nicht mit sei­ner Woh­nung iden­tisch ist, zu blei­ben und sich dort sei­nem Ar­beit­ge­ber zur Ver­fü­gung zu hal­ten.

Ent­schei­dend ist er­heb­li­che Be­ein­träch­ti­gung der frei­en Zeit­ein­tei­lung

Nach die­sen Klar­stel­lun­gen ent­schei­det der Ge­richts­hof ers­tens, dass Be­reit­schafts­zei­ten, ein­schlie­ß­lich Zei­ten in Form von Ruf­be­reit­schaft, auch dann in vol­lem Um­fang unter den Be­griff "Ar­beits­zeit" fal­len, wenn die dem Ar­beit­neh­mer wäh­rend die­ser Zei­ten auf­er­leg­ten Ein­schrän­kun­gen seine Mög­lich­keit, die Zeit, in der seine be­ruf­li­chen Diens­te nicht in An­spruch ge­nom­men wer­den, frei zu ge­stal­ten und sich sei­nen ei­ge­nen In­ter­es­sen zu wid­men, ob­jek­tiv ge­se­hen ganz er­heb­lich be­ein­träch­ti­gen. Um­ge­kehrt ist, wenn es keine sol­chen Ein­schrän­kun­gen gibt, nur die Zeit als "Ar­beits­zeit" an­zu­se­hen, die mit der ge­ge­be­nen­falls tat­säch­lich wäh­rend sol­cher Be­reit­schafts­zei­ten er­brach­ten Ar­beits­leis­tung ver­bun­den ist. Bei der Be­ur­tei­lung, ob eine Be­reit­schafts­zeit "Ar­beits­zeit" dar­stellt, könn­ten in­so­weit nur Ein­schrän­kun­gen be­rück­sich­tigt wer­den, die dem Ar­beit­neh­mer durch na­tio­na­le Rechts­vor­schrif­ten, durch einen Ta­rif­ver­trag oder durch sei­nen Ar­beit­ge­ber auf­er­legt wer­den. Da­ge­gen seien or­ga­ni­sa­to­ri­sche Schwie­rig­kei­ten, die eine Be­reit­schafts­zeit in­fol­ge na­tür­li­cher Ge­ge­ben­hei­ten oder der frei­en Ent­schei­dung des Ar­beit­neh­mers für ihn mit sich brin­gen kann, un­er­heb­lich. Dies sei bei­spiels­wei­se dann der Fall, wenn das Ge­biet, das der Ar­beit­neh­mer wäh­rend einer Be­reit­schafts­zeit in Form von Ruf­be­reit­schaft prak­tisch nicht ver­las­sen kann, nur we­ni­ge Mög­lich­kei­ten für Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten bie­tet.

Na­tio­na­le Ge­rich­te müs­sen Um­stän­de des Ein­zel­falls ins­ge­samt wür­di­gen

Es sei Sache der na­tio­na­len Ge­rich­te, eine Ge­samt­wür­di­gung aller Um­stän­de des Ein­zel­falls vor­zu­neh­men. Zu die­sem Zweck sei zum einen zu be­rück­sich­ti­gen, ob die Frist sach­ge­recht ist, in­ner­halb deren der Ar­beit­neh­mer nach der Auf­for­de­rung durch sei­nen Ar­beit­ge­ber die Ar­beit auf­zu­neh­men hat. Die Fol­gen einer sol­chen Frist seien je­doch an­hand des kon­kre­ten Falls zu be­ur­tei­len. Dabei seien nicht nur wei­te­re dem Ar­beit­neh­mer auf­er­leg­te Ein­schrän­kun­gen wie die Ver­pflich­tung, mit einer spe­zi­el­len Aus­rüs­tung am Ar­beits­platz zu er­schei­nen, zu be­rück­sich­ti­gen, son­dern auch ihm ge­währ­te Er­leich­te­run­gen. Sol­che Er­leich­te­run­gen könn­ten bei­spiels­wei­se in der Be­reit­stel­lung eines Dienst­fahr­zeugs be­stehen, mit dem von Son­der­rech­ten ge­gen­über der Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung Ge­brauch ge­macht wer­den kann. Zum an­de­ren müss­ten die na­tio­na­len Ge­rich­te die durch­schnitt­li­che Häu­fig­keit der von einem Ar­beit­neh­mer wäh­rend sei­ner Be­reit­schafts­zei­ten ge­leis­te­ten Ein­sät­ze be­rück­sich­ti­gen, so­fern in­so­weit eine ob­jek­ti­ve Schät­zung mög­lich ist.

Voll­um­fäng­li­che An­er­ken­nung als "Ar­beits­zeit" sagt noch nichts über Ver­gü­tung aus

Wei­ter stellt der EuGH fest, dass die Art und Weise der Ver­gü­tung von Ar­beit­neh­mern für Be­reit­schafts­zei­ten nicht der Richt­li­nie 2003/88 un­ter­liegt. Sie stehe daher der An­wen­dung in­ner­staat­li­cher Rechts­vor­schrif­ten, eines Ta­rif­ver­trags oder einer Ent­schei­dung des Ar­beit­ge­bers nicht ent­ge­gen, wo­nach bei der Ver­gü­tung Zei­ten, in denen tat­säch­lich Ar­beits­leis­tun­gen er­bracht wer­den, und Zei­ten, in denen keine tat­säch­li­che Ar­beit ge­leis­tet wird, in un­ter­schied­li­cher Weise be­rück­sich­tigt wer­den, selbst wenn diese Zei­ten in vol­lem Um­fang als "Ar­beits­zeit" an­zu­se­hen sind. Um­ge­kehrt steht es der Richt­li­nie 2003/88 eben­falls nicht ent­ge­gen, wenn Be­reit­schafts­zei­ten, die nicht als "Ar­beits­zeit" ein­ge­stuft wer­den kön­nen, in Form der Zah­lung eines zum Aus­gleich der dem Ar­beit­neh­mer durch sie ver­ur­sach­ten Un­an­nehm­lich­kei­ten die­nen­den Be­trags ver­gü­tet wer­den.

Be­reit­schafts­zei­ten dür­fen Si­cher­heit und Ge­sund­heit der Ar­beit­neh­mer nicht zu­wi­der­lau­fen

Schlie­ß­lich führt der Ge­richts­hof aus, dass die Ein­stu­fung einer nicht als "Ar­beits­zeit" an­zu­se­hen­den Be­reit­schafts­zeit als "Ru­he­zeit" die be­son­de­ren Pflich­ten un­be­rührt lässt, die den Ar­beit­ge­bern nach der Richt­li­nie 89/3912 ob­lie­gen. Ins­be­son­de­re dürf­ten die Ar­beit­ge­ber keine Be­reit­schafts­zei­ten ein­füh­ren, die so lang oder so häu­fig sind, dass sie eine Ge­fahr für die Si­cher­heit oder die Ge­sund­heit der Ar­beit­neh­mer dar­stel­len, un­ab­hän­gig davon, ob sie als "Ru­he­zei­ten" im Sinne der Richt­li­nie 2003/88 ein­zu­stu­fen sind.

Re­ak­ti­on der Feu­er­wehr­ge­werk­schaft auf Ur­teil

Das Ur­teil könn­te auch auf deut­sche Städ­te und Kom­mu­nen Ein­fluss haben. Laut Deut­scher Feu­er­wehr-Ge­werk­schaft gibt es hier­zu­lan­de mehr als 100 Be­rufs­feu­er­weh­ren mit rund 35.000 Be­schäf­tig­ten. Für sie sind die Kom­mu­nen zu­stän­dig. "Wenn Be­reit­schafts­zeit als Ar­beits­zeit gilt, brau­che ich na­tür­lich einen grö­ße­ren Per­so­nal­pool, aus dem ich schöp­fen kann", sagt Marc Elx­nat vom Deut­schen Städ­te- und Ge­mein­de­bund. Da die Brand­be­kämp­fung wei­test­ge­hend durch fast eine Mil­li­on Frei­wil­li­ge or­ga­ni­siert werde, müsse in den Kom­mu­nen ge­schaut wer­den, ob die Re­ak­ti­ons­zei­ten mit dem be­stehen­den Per­so­nal ge­währ­leis­tet wer­den könn­ten. Schon heute sei es teil­wei­se schwer, die not­wen­di­gen Kräf­te für die Feu­er­weh­ren zu fin­den, sagt Elx­nat. "Es ist aus­drück­lich zu be­grü­ßen, dass der EuGH die Be­ur­tei­lung, ob eine Be­reit­schafts­zeit als Ar­beits­zeit an­zu­se­hen ist, unter den Vor­be­halt einer Ge­samt­wür­di­gung im Ein­zel­fall stellt." Das Ur­teil stel­le "glück­li­cher­wei­se" klar, dass Be­reit­schaft nur dann Ar­beits­zeit dar­stel­le, wenn es zu er­heb­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen für den Ar­beit­neh­mer komme.

EuGH, Urteil vom 09.03.2021 - C-344/19

Redaktion beck-aktuell, 9. März 2021 (ergänzt durch Material der dpa).

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