Ausweisungsschutz aus dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei

Türkische Arbeitnehmer, die nach Ansicht der nationalen Behörden eine gegenwärtige schwere Gefahr für die Gesellschaft darstellen, können sich weiterhin auf das Assoziationsabkommen mit der Türkei berufen, um sich gegen "neue Beschränkungen" ihres Aufenthaltsrechts zu wehren. Eine solche Beschränkung kann jedoch im Einzelfall aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein, so der Europäische Gerichtshof.

Verschärfung der niederländischen Ausländerverordnung

Drei türkische Arbeitnehmer hielten sich seit über 20 Jahren rechtmäßig in den Niederlanden auf und besaßen alle eine unbefristete reguläre Aufenthaltserlaubnis. 2017 und 2018 entzog ihnen der niederländische Staatssekretär für Justiz und Sicherheit diese nach Art. 3.86, 3.98 der dortigen Ausländerverordnung ("verschärfte gleitende Skala"). Er forderte sie auf, das niederländische Hoheitsgebiet unverzüglich zu verlassen und verhängte ein Einreiseverbot. Die drei waren in der Vergangenheit unter anderem wegen Raub, Einbruchdiebstahl und Handel mit harten Drogen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Das Bezirksgericht Den Haag (Niederlande) hielt in einem Fall die Entscheidung der Behörde für nichtig, da die verschärfte gleitende Skala eine "neue Beschränkung" nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei darstelle. Danach dürfen die "Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die [Republik] Türkei … für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen." Der Staatssekretär rief dagegen den Staatsrat an. In den beiden anderen Fällen griffen die Betroffenen die für sie nachteiligen Entscheidungen an.

Niederländisches Verfassungsorgan legt EuGH Fragen vor

Der niederländische Staatsrat setzte die Verfahren aus und wandte sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Dieser sollte unter anderem die Frage klären, ob sich aus Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80, wonach Beschränkungen unter anderem aus Gründen der öffentlichen Sicherheit möglich sind, ergebe, dass türkische Staatsangehörige sich nicht mehr auf Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen können, wenn sie wegen ihres persönlichen Verhaltens eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellten. Der EuGH verneinte dies.

Einschränkung der Stillhalteklausel kann gerechtfertigt sein

Den Luxemburger Richtern zufolge fällt die Verschärfung der gleitenden Skala, die die nationale Maßnahme zur Wahrung der öffentlichen Ordnung vorsieht, in den in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gewährten Wertungsspielraum der zuständigen niederländischen Behörden. Der Verweis auf die geänderten gesellschaftlichen Anschauungen, die zu dieser neuen Beschränkung geführt haben, und der Umstand, dass diese dem Ziel der öffentlichen Ordnung diene, könnten zu ihrer Rechtfertigung beitragen. Zusätzlich müssten diese Maßnahmen aber auch geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und dürften nicht über das gesetzgeberische Ziel hinausgehen. Dies erfordere eine vorherige und individuelle Prüfung der gegenwärtigen Situation des betroffenen türkischen Arbeitnehmers. Automatismen verböten sich.

EuGH, Urteil vom 09.02.2023 - C–402/21

Redaktion beck-aktuell, 10. Februar 2023.

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