EuGH: Abgelehnte Asylbewerber dürfen vor Entscheidung über Rechtsbehelf ausgewiesen werden, sofern Rückkehrverfahren ausgesetzt wird

Die Mitgliedstaaten dürfen nach der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz eine Rückkehrentscheidung erlassen, sofern sie das Rückkehrverfahren (vollständig) aussetzen, bis über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung entschieden wurde. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 19.06.2018 entschieden (Az.: C-181/16).

Rückkehrentscheidung gegen abgelehnten Schutzsuchenden

Der Ausgangskläger, ein togolesischer Staatsangehöriger, beantragte 2011 in Belgien internationalen Schutz. Im Jahr 2014 lehnte die zuständige Behörde den Antrag ab und wies ihn an, das Staatsgebiet zu verlassen. Der Ausgangskläger legte einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung seines Antrags ein und beantragte zugleich die Nichtigerklärung der Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen.

Vorlagegericht: Rückkehrentscheidung vor Ausschöpfung des Rechtswegs mit EU-Recht vereinbar?

Das belgische Vorlagegericht, der Conseil d’État (Staatsrat), rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und wollte wissen, ob es mit EU-Recht vereinbar sei, dass gegen eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nach der Ablehnung ihres Antrags, aber vor Ausschöpfung der dagegen zur Verfügung stehenden gerichtlichen Rechtsbehelfe eine Rückkehrentscheidung erlassen wird.

EuGH: Bleiberecht zur Rechtsbehelfseinlegung steht Anwendung der Rückführungsrichtlinie nicht entgegen

Der EuGH hält zunächst fest, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt habe, nach der Ablehnung ihres Antrags in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger falle. Dabei schließe die Befugnis, zur Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben, es nicht aus, dass der Aufenthalt des Betroffenen mit der Ablehnung grundsätzlich illegal wird. Denn die Richtlinie beruhe nicht auf dem Gedanken, dass die Illegalität des Aufenthalts und damit die Anwendbarkeit der Richtlinie das Fehlen jeder rechtlichen Möglichkeit eines Drittstaatsangehörigen zum Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats voraussetzen. Das Hauptziel der Richtlinie bestehe in der Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen. Speziell zum Ausdruck komme dieses Ziel in einer Bestimmung der Richtlinie, die es den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestatte, eine Entscheidung über die Beendigung des legalen Aufenthalts zusammen mit einer Rückkehrentscheidung zu erlassen.

EU-Staaten müssen aber wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gewährleisten

Allerdings sei der dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung innewohnende Schutz gegenüber einer Rückkehrentscheidung und einer etwaigen Abschiebungsentscheidung dadurch zu gewährleisten, dass die abgelehnte Person zumindest vor einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung einlegen kann, so der EuGH. Vorbehaltlich der strikten Einhaltung dieses Erfordernisses verstoße der bloße Umstand, dass der Aufenthalt des Betroffenen nach behördlicher Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz als illegal eingestuft wird und daher anschließend oder zusammen mit der Ablehnung in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, weder gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung noch gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.

Rückkehrverfahren bis zur Entscheidung über Rechtsbehelf voll auszusetzen

Die Mitgliedstaaten müssten einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz gewährleisten, wobei der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren sei. Laut EuGH sind daher während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn unter anderem alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen. Insoweit genüge es nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat von einer zwangsweisen Vollstreckung der Rückkehrentscheidung absieht. Vielmehr dürfe insbesondere die Frist für die freiwillige Ausreise nicht zu laufen beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht habe, und er dürfe während dieses Zeitraums nicht in Abschiebehaft genommen werden. Zudem behalte er, solange noch nicht endgültig über seinen Antrag entschieden worden sei, seinen Status als Schutzsuchender. Im Übrigen müssten die Mitgliedstaaten dem Antragsteller die Geltendmachung einer nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretenen Änderung der Umstände ermöglichen, sofern sie erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben könne. Schließlich müssten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass der Antragsteller in transparenter Weise über die Einhaltung dieser Garantien informiert wird.

Rückkehrverfahren im vorliegenden Fall nicht vollständig ausgesetzt

Zum vorliegenden Fall führt der EuGH aus, dass die Rückkehrentscheidung den Ausgangskläger laut Vorlagegericht belastet, auch wenn sie nicht vor der Entscheidung über den von ihm eingelegten Rechtsbehelf zwangsweise vollstreckt werden könne. Denn sie verpflichte ihn zum Verlassen des belgischen Hoheitsgebiets. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheine daher die Garantie, dass das Rückkehrverfahren bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf auszusetzen sei, nicht gewahrt zu sein.

EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16

Redaktion beck-aktuell, 19. Juni 2018.

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