Arbeitgeber auch im Ausland tätiger Lkw-Fahrer nach tatsächlichen Verhältnissen zu bestimmen

Arbeitgeber im internationalen Güterkraftverkehr tätiger Lkw-Fahrer ist in Bezug auf das anzuwendende System der sozialen Sicherheit das Unternehmen, das diesen Fahrern gegenüber tatsächlich weisungsbefugt ist, ihre Lohnkosten trägt und tatsächlich befugt ist, sie zu entlassen. Dieses Unternehmen müsse nicht unbedingt das sein, mit dem die Fahrer den Arbeitsvertrag geschlossen haben und das formal als Arbeitgeber angegeben wird, betont die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs.

Zyprische Gesellschaft schließt Verträge mit niederländischen Transportunternehmen

Im Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens hatte die AFMB Ltd, eine in Zypern gegründete Gesellschaft, mit in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen Verträge geschlossen, in denen sie sich gegen Zahlung einer Provision verpflichtete, die Verwaltung der Lastkraftwagen dieser Unternehmen für deren Rechnung und auf deren Gefahr zu übernehmen. Sie hatte ferner mit im internationalen Güterkraftverkehr tätigen Lkw-Fahrern mit Wohnsitz in den Niederlanden Arbeitsverträge geschlossen, in denen sie als Arbeitgeber dieser Arbeitnehmer bezeichnet wurde. Die betroffenen Lkw-Fahrer waren für Rechnung der Transportunternehmen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten oder auch in einem oder mehr Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) tätig.

Streit um anzuwendendes Recht

AFMB und die Fahrer wandten sich gegen Entscheidungen des niederländischen Verwaltungsrats der Sozialversicherungsanstalt, mit denen die Rechtsvorschriften der Niederlande auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für auf diese Fahrer anwendbar erklärt wurden. Nach Ansicht des Verwaltungsrats der Sozialversicherungsanstalt waren allein die in den Niederlanden niedergelassenen Transportunternehmen als Arbeitgeber dieser Fahrer einzustufen, sodass die niederländischen Rechtsvorschriften anwendbar seien. Dagegen meinten AFMB und die Fahrer, die in Zypern ansässige AFMB sei als Arbeitgeber einzustufen, sodass die zyprischen Rechtsvorschriften gälten. 

EuGH: Autonome und einheitliche Auslegung des Arbeitgeberbegriffs geboten

Der EuGH stellte auf Vorlage aus Zypern zunächst fest, dass die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 883/2004 für die Bestimmung des Bedeutungsgehalts der Begriffe "Arbeitgeber" und "Personal" nicht auf nationale Rechtsvorschriften oder Praktiken verweisen. Daher sei eine autonome und einheitliche Auslegung dieses Begriffs geboten, die nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Regelungszusammenhang und den mit der fraglichen Regelung verfolgten Zweck berücksichtigt.

Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses maßgeblich

Was den Wortlaut und den Zusammenhang betrifft, hat der Gerichtshof zum einen festgestellt, dass die Beziehung zwischen einem "Arbeitgeber" und dessen "Personal" mit dem Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen diesen beiden einhergeht. Zum anderen hat er darauf hingewiesen, dass der objektiven Situation, in der sich der betreffende Arbeitnehmer befindet, und allen Umständen seiner Beschäftigung Rechnung zu tragen ist. Insoweit könne zwar der Abschluss eines Arbeitsvertrags ein Indiz für das Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses sein. Doch erlaube dieser Umstand allein nicht den Schluss auf das Bestehen eines solchen Verhältnisses. Für einen solchen Schluss seien nämlich nicht nur die formal im Arbeitsvertrag enthaltenen Informationen zu berücksichtigen, sondern auch die Art und Weise, in der die Pflichten des Arbeitnehmers und des betreffenden Unternehmens praktisch erfüllt werden. Unabhängig vom Wortlaut der Vertragsunterlagen sei es daher notwendig, die Stelle zu ermitteln, der der Arbeitnehmer tatsächlich untersteht, die in Wirklichkeit die entsprechenden Lohnkosten zu tragen hat und die tatsächlich befugt ist, diesen Arbeitnehmer zu entlassen.

Abstellen allein auf formale Erwägungen könnte Zweck der Verordnungen gefährden

Nach Auffassung des EuGH würde eine Auslegung, die ausschließlich auf formale Erwägungen wie den Abschluss eines Arbeitsvertrags gestützt wäre, den Unternehmen die Möglichkeit eröffnen, den Ort zu verlegen, der für die Bestimmung der anwendbaren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit als maßgebend anzusehen ist, ohne dass eine solche Verlegung tatsächlich mit dem mit den Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 883/2004 verfolgten Ziel der Gewährleistung der wirksamen Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Einklang stünde. Das mit diesen Verordnungen geschaffene System solle zwar lediglich die Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit unterstützen. Dennoch könnte der mit ihnen verfolgte Zweck gefährdet werden, wenn die Auslegung darauf hinausliefe, es den Unternehmen zu erleichtern, sich rein künstlicher Konstruktionen zu bedienen, um die unionsrechtliche Regelung allein zu dem Zweck zu nutzen, die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Systemen auszunutzen.

Im Ausgangsfall niederländische Transportunternehmen als Arbeitgeber anzusehen

Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Fahrer offenbar zum Personal der Transportunternehmen gehörten und diese Unternehmen ihre Arbeitgeber waren, sodass auf sie die niederländischen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit anwendbar sein dürften, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts sei. Diese Fahrer seien nämlich vor Abschluss der Arbeitsverträge mit AFMB von den Transportunternehmen selbst ausgewählt worden und hätten nach Abschluss dieser Verträge ihre Tätigkeit für Rechnung und auf Gefahr dieser Unternehmen ausgeübt. Darüber hinaus sei die tatsächliche Lohnbelastung über die an AFMB gezahlte Provision von den Transportunternehmen getragen worden. Die Transportunternehmen seien schließlich offenbar tatsächlich zur Entlassung befugt gewesen, und einige der Fahrer seien vor Abschluss der Arbeitsverträge mit AFMB bereits bei diesen Unternehmen beschäftigt gewesen.

EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-610/18

Redaktion beck-aktuell, 16. Juli 2020.