EuGH: Ar­beits­lo­ser Selbst­stän­di­ger be­hält Auf­ent­halts­recht

Einem Uni­ons­bür­ger, der nach mehr als einem Jahr eine Er­werbs­tä­tig­keit als Selbst­stän­di­ger in einem an­de­ren Mit­glied­staat wegen eines Man­gels an Ar­beit, der auf von sei­nem Wil­len un­ab­hän­gi­gen Grün­den be­ruht, auf­ge­ge­ben hat, bleibt die Ei­gen­schaft eines Selbst­stän­di­gen und in­fol­ge­des­sen ein Auf­ent­halts­recht in die­sem Mit­glied­staat er­hal­ten. Dies hat der Ge­richts­hof der Eu­ro­päi­schen Union mit Ur­teil vom 20.12.2017 ent­schie­den (Az.: C-442/16).

Streit um Zu­schuss für Ar­beit­su­chen­de

Flo­rea Gusa, ein ru­mä­ni­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger, reis­te 2007 in das Ho­heits­ge­biet Ir­lands ein. Von 2008 bis 2012 war er als selbst­stän­di­ger Stu­cka­teur tätig und ent­rich­te­te in Ir­land seine Steu­ern, die ein­kom­mens­ab­hän­gi­gen So­zi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge und die an­de­ren Ab­ga­ben auf seine Ein­künf­te. Im Jahr 2012 gab Gusa seine Tä­tig­keit wegen eines auf dem Rück­gang der Kon­junk­tur be­ru­hen­den Man­gels an Ar­beit auf. Er ver­füg­te über kein Ein­kom­men mehr und stell­te daher einen An­trag auf Ge­wäh­rung eines Zu­schus­ses für Ar­beit­su­chen­de. Die­ser An­trag wurde mit der Be­grün­dung ab­ge­lehnt, dass Gusa nicht nach­ge­wie­sen habe, dass er noch immer ein Recht auf Auf­ent­halt in Ir­land be­sit­ze. Seit Be­en­di­gung sei­ner selbst­stän­di­gen Er­werbs­tä­tig­keit als Stu­cka­teur habe er näm­lich seine Ei­gen­schaft als Selbst­stän­di­ger ver­lo­ren und daher nicht mehr die in der Frei­zü­gig­keits­richt­li­nie (RL 2004/38/EG) vor­ge­se­he­nen Vor­aus­set­zun­gen für die Zu­er­ken­nung eines Auf­ent­halts­rechts er­füllt.

Streit um Auf­ent­halts­recht wegen "un­frei­wil­li­ger Ar­beits­lo­sig­keit"

Art. 7 der Richt­li­nie sieht je­doch vor, dass einem Uni­ons­bür­ger, der seine Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer oder Selbst­stän­di­ger nicht mehr aus­übt, die Er­werbs­tä­ti­gen­ei­gen­schaft und damit ein Auf­ent­halts­recht im Auf­nah­me­mit­glied­staat in vier Fäl­len er­hal­ten bleibt. Einer die­ser Fälle be­trifft die Si­tua­ti­on, dass ein Bür­ger "nach mehr als ein­jäh­ri­ger Be­schäf­ti­gung" in "un­frei­wil­li­ge Ar­beits­lo­sig­keit" gerät. Gusa geht davon aus, dass ihm die Selbst­stän­di­gen­ei­gen­schaft und folg­lich ein Auf­ent­halts­recht in Ir­land nach die­ser Vor­schrift er­hal­ten blei­be. Die iri­schen Be­hör­den wie­der­um sind der An­sicht, dass diese Vor­schrift nur für Per­so­nen gelte, die eine Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer aus­ge­übt hät­ten.

Na­tio­na­les Ge­richt bat um Klä­rung

Der Court of Ap­peal (Be­ru­fungs­ge­richt, Ir­land), der mit dem Rechts­mit­tel be­fasst ist, be­frag­te den Ge­richts­hof, ob der in der Richt­li­nie ent­hal­te­ne Aus­druck "un­frei­wil­li­ge Ar­beits­lo­sig­keit nach mehr als ein­jäh­ri­ger Be­schäf­ti­gung" aus­schlie­ß­lich Per­so­nen er­fasst, die un­frei­wil­lig ar­beits­los ge­wor­den sind, nach­dem sie einer mehr als ein­jäh­ri­gen Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer nach­ge­gan­gen sind, oder auch die­je­ni­gen Per­so­nen, die sich in einer ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on be­fin­den, nach­dem sie eine mehr als ein­jäh­ri­ge selbst­stän­di­ge Tä­tig­keit aus­ge­übt haben.

Sprach­fas­sun­gen der Richt­li­nie wei­chen von­ein­an­der ab

Der EuGH hat ent­schie­den, dass aus dem Wort­laut der frag­li­chen Be­stim­mung nicht ab­ge­lei­tet wer­den kann, dass sie nur den Fall von Per­so­nen er­fasst, die keine Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer mehr aus­üben, und nicht für Per­so­nen gilt, die eine Er­werbs­tä­tig­keit als Selbst­stän­di­ge auf­ge­ge­ben haben. Zwi­schen den ver­schie­de­nen Sprach­fas­sun­gen der Richt­li­nie be­stün­den Ab­wei­chun­gen. In ei­ni­gen Sprach­fas­sun­gen werde im Kern auf die Aus­übung einer Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer Bezug ge­nom­men, wäh­rend der Uni­ons­ge­setz­ge­ber in an­de­ren eher die neu­tra­le For­mu­lie­rung "Be­rufs­tä­tig­keit" ver­wen­de. Der EuGH wies dar­auf hin, dass im Fall von Ab­wei­chun­gen zwi­schen den ver­schie­de­nen Sprach­fas­sun­gen eines Rechts­akts die be­tref­fen­de Vor­schrift nach der all­ge­mei­nen Sys­te­ma­tik und dem Zweck des Rechts­akts aus­ge­legt wer­den muss.

Un­ter­schei­dung nur zwi­schen wirt­schaft­lich tä­ti­gen und nicht er­werbs­tä­ti­gen Bür­gern

Mit der Richt­li­nie soll­ten die Be­din­gun­gen fest­ge­legt wer­den, unter denen Uni­ons­bür­ger das Recht auf Frei­zü­gig­keit und Auf­ent­halt in­ner­halb des Ho­heits­ge­biets der Mit­glied­staa­ten ge­nie­ßen, be­tont der EuGH. Zu die­sem Zweck un­ter­schei­de sie zwi­schen wirt­schaft­lich tä­ti­gen und nicht er­werbs­tä­ti­gen Bür­gern und Stu­die­ren­den. Hin­ge­gen tref­fe sie keine Un­ter­schei­dung zwi­schen im Auf­nah­me­mit­glied­staat un­selbst­stän­dig und selbst­stän­dig er­werbs­tä­ti­gen Bür­gern. So­dann be­tont der EuGH, dass mit der Richt­li­nie der An­satz über­wun­den wer­den soll­te, der für die frü­he­ren Richt­li­ni­en, die unter an­de­rem Ar­beit­neh­mer und Selbst­stän­di­ge ge­trennt be­han­del­ten, cha­rak­te­ris­tisch war.

EuGH be­fürch­tet Un­gleich­be­hand­lung in ver­gleich­bar schwie­ri­ger Lage

Schlie­ß­lich würde eine enge Aus­le­gung der frag­li­chen Be­stim­mung (also eine Aus­le­gung, die le­dig­lich die Per­so­nen er­fasst, die eine Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer aus­ge­übt haben) nach An­sicht des EuGH eine un­ter­schied­li­che Be­hand­lung von Per­so­nen, die eine Er­werbs­tä­tig­keit als Ar­beit­neh­mer nicht mehr aus­üben, und Per­so­nen, die eine Er­werbs­tä­tig­keit als Selbst­stän­di­ge auf­ge­ge­ben haben, ein­füh­ren, die nicht ge­recht­fer­tigt wäre, da sich eine Per­son, die einer selbst­stän­di­gen Er­werbs­tä­tig­keit nach­ge­gan­gen ist, eben­so wie ein Ar­beit­neh­mer, der un­frei­wil­lig sei­nen Ar­beits­platz ver­lie­ren kann, ge­zwun­gen sehen kann, diese Tä­tig­keit auf­zu­ge­ben. Diese Per­son könn­te somit in eine ver­gleich­ba­re schwie­ri­ge Lage ge­ra­ten wie ein ent­las­se­ner Ar­beit­neh­mer.

Tat­sa­che der Ein­zah­lun­gen ins So­zi­al­ver­si­che­rungs- und Steu­er­sys­tem zu be­rück­sich­ti­gen

Eine sol­che un­ter­schied­li­che Be­hand­lung wäre umso we­ni­ger ge­recht­fer­tigt, als sie dazu füh­ren würde, dass eine Per­son, die eine mehr als ein­jäh­ri­ge Er­werbs­tä­tig­keit als Selbst­stän­di­ger im Auf­nah­me­mit­glied­staat aus­ge­übt und zum So­zi­al­ver­si­che­rungs- und Steu­er­sys­tem die­ses Mit­glied­staats bei­ge­tra­gen hat, gleich­be­han­delt würde wie eine Per­son, die in die­sem Mit­glied­staat erst­mals einen Ar­beits­platz sucht, dort nie eine wirt­schaft­li­che Tä­tig­keit aus­ge­übt und nie in das So­zi­al­ver­si­che­rungs- und Steu­er­sys­tem des frag­li­chen Staa­tes ein­ge­zahlt hat. Der EuGH ent­schied daher, dass einem Staats­an­ge­hö­ri­gen eines Mit­glied­staats, der, nach­dem er sich in einem an­de­ren Mit­glied­staat etwa vier Jahre recht­mä­ßig auf­ge­hal­ten und als Selbst­stän­di­ger ge­ar­bei­tet hatte, diese Tä­tig­keit wegen eines Man­gels an Ar­beit, der auf von sei­nem Wil­len un­ab­hän­gi­gen Grün­den be­ruh­te, auf­ge­ge­ben hat, die Ei­gen­schaft eines Selbst­stän­di­gen im Sinne der Richt­li­nie er­hal­ten bleibt.

EuGH, Urteil vom 20.12.2017 - C-442/16

Redaktion beck-aktuell, 20. Dezember 2017.

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