Anspruch auf Wiedereintragung oder Entschädigung nach unionsrechtswidriger Löschung von Nießbrauchrechten in Ungarn

Personen, deren Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen in Ungarn unter Verstoß gegen das Unionsrecht entzogen wurden, müssen auf die Wiedereintragung dieser Rechte im Grundbuch oder auf Entschädigung klagen können, und zwar auch dann, wenn sie die rechtswidrige Löschung dieser Rechte nicht gerichtlich angefochten haben. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Ungarn entzog Nießbrauchsrechte von nicht eng mit Eigentümern verwandten Personen

Ungarn erließ 2013 eine Regelung, die am 01.05.2014 alle Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen im Land aufhob, die Personen innehatten, die keine nahen Angehörigen der Eigentümer der betreffenden Flächen waren. Grossmania ist eine ungarische Gesellschaft, deren Gesellschafter Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind. Die Gesellschaft war Inhaberin von Nießbrauchsrechten, die sie an landwirtschaftlichen Parzellen in Ungarn erworben hatte. Nachdem diese Nießbrauchsrechte am 01.05.2014 kraft Gesetzes erloschen waren, wurden sie im Grundbuch gelöscht. Grossmania legte gegen diese Löschung keinen Rechtsbehelf ein.

Gesellschaft verlangt nach EuGH-Urteil Wiedereintragung

Der EuGH entschied 2018, dass die ungarische Regelung die Kapitalverkehrsfreiheit verletze, und 2019, dass sie zudem das in der EU-Grundrechtecharta garantierte Eigentumsrecht verletze. Grossmania beantragte nach der ersten EuGH-Entscheidung bei den ungarischen Behörden die Wiedereintragung ihrer Nießbrauchsrechte im Grundbuch. Dieser Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die in Rede stehende Regelung noch in Kraft sei und der beantragten Wiedereintragung entgegenstehe. Grossmania erhob dagegen Klage. Das ungarische Vorlagegericht wollte vom EuGH wissen, ob es die genannte Regelung unangewendet lassen und die ungarischen Behörden verpflichten müsse, die Rechte wieder einzutragen, obwohl Grossmania die Löschung ihrer Nießbrauchsrechte nicht gerichtlich angefochten habe.

EuGH: Gericht muss bestandskräftige Löschungsentscheidung außer Acht lassen

Laut EuGH muss das Vorlagegericht die Regelung bei seiner Prüfung, ob der Antrag auf Wiedereintragung habe abgelehnt werden dürfen, außer Acht lassen, nachdem in der Vorabentscheidung von 2018 ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit festgestellt worden sei. Eine Verwaltungsbehörde sei unionsrechtlich zwar nicht verpflichtet, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstoße. Allerdings könnten besondere Umstände eine nationale Verwaltungsbehörde verpflichten, eine solche Entscheidung zu überprüfen, um einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Rechtssicherheit und dem der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht zu finden. Die in Rede stehende nationale Regelung stelle aber eine offensichtliche und schwerwiegende Verletzung sowohl der Kapitalverkehrsfreiheit als auch des Eigentumsrechts dar und scheine weitreichende negative wirtschaftliche Auswirkungen gehabt zu haben. Somit komme im Zusammenhang mit der Suche nach dem genannten Ausgleich dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit im vorliegenden Fall besondere Bedeutung zu. Ferner sei die Regelung geeignet, die früheren Inhaber dieser Rechte hinsichtlich der Frage der Erforderlichkeit der Anfechtung der Löschungsentscheidung für die Wahrung ihrer Nießbrauchsrechte in die Irre zu führen. Denn diese Rechte seien gemäß der nationalen Regelung "kraft Gesetzes" erloschen, also ohne dass nachfolgende Handlungen zur Umsetzung dieses Erlöschens erforderlich gewesen seien. Unter diesen Umständen müssten die ungarischen Gerichte im Rahmen eines Rechtsstreits über die Ablehnung eines Antrags auf Wiedereintragung gelöschter Nießbrauchsrechte die betreffende Löschungsentscheidung außer Acht lassen, selbst wenn sie zwischenzeitlich bestandskräftig geworden sei.

Anspruch auf Wiedereintragung oder Entschädigung

Die ungarischen Behörden und Gerichte seien verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet seien, die rechtswidrigen Folgen der nationalen Regelung zu beheben. Solche Maßnahmen könnten vor allem in der Wiedereintragung der rechtswidrig gelöschten Nießbrauchsrechte im Grundbuch bestehen. Sollte eine solche Wiedereintragung unmöglich sein, etwa weil sie Rechte verletzen würde, die Dritte nach der Löschung der betreffenden Nießbrauchsrechte gutgläubig erworben haben, müsste den früheren Inhabern der aufgehobenen Nießbrauchsrechte ein Anspruch auf eine finanzielle oder sonstige Entschädigung gewährt werden, deren Wert geeignet wäre, den durch die Aufhebung dieser Rechte entstandenen wirtschaftlichen Verlust finanziell auszugleichen. Darüber hinaus hätten die früheren Inhaber auch Anspruch auf Ersatz der Schäden, die sie infolge dieser Aufhebung erlitten haben, sofern die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen erfüllt seien, was vorliegend der Fall zu sein scheine.

EuGH, Urteil vom 10.03.2022 - C-177/20

Redaktion beck-aktuell, 10. März 2022.