Sofortiger Anspruch auf Kindergeld für Unionsbürger auch ohne Einkünfte
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Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat, kann nicht während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden, weil er keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat bezieht. Sofern er sich rechtmäßig aufhalte, genieße er grundsätzlich Gleichbehandlung mit den inländischen Staatsangehörigen, entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Kindergeld für die ersten drei Monate?

Eine Unionsbürgerin mit drei Kindern klagte vor einem deutschen Gericht gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags für die ersten drei Monate nach Begründung ihres Aufenthalts in Deutschland. Die Familienkasse war der Auffassung, dass die Antragstellerin nicht die im Juli 2019 in Deutschland eingeführten Voraussetzungen erfülle, um als Unionsbürgerin Kindergeld während der ersten drei Monate beanspruchen zu können, weil sie in dieser Zeit keine "inländischen Einkünfte" bezogen habe. Mit diesem Erfordernis ziele der deutsche Gesetzgeber darauf ab, einen Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu vermeiden, der zu einer unangemessenen Inanspruchnahme des deutschen Systems der sozialen Sicherheit führen könne. Dieses Erfordernis gilt nicht für deutsche Staatsangehörige, die von einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren. Das deutsche Gericht hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob diese unterschiedliche Behandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

EuGH: Unionsbürgerin steht bei rechtmäßigem Aufenthalt Kindergeld zu

Der Gerichtshof hat entschieden, dass jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall sei der Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig und Unionsbürger vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen genauso zu behandeln wie Inländer.

Ausnahme für Sozialhilfeleistung greift nicht

Der Aufnahmemitgliedstaat könne zwar gemäß einer im Unionsrecht zu diesem Zweck vorgesehenen Ausnahmebestimmung einem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung verweigern. Kindergeld sei aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung, weil es unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt werde und nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts diene, sondern dem Ausgleich von Familienlasten. Da hinsichtlich solcher Familienleistungen eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen sei, stehe das Unionsrecht der vom deutschen Gesetzgeber eingeführten Ungleichbehandlung entgegen.

Voraussetzung ist aber “gewöhnlicher Aufenthalt“ im Aufnahmemitgliedstaat

Auf die Gleichbehandlung könne sich der betreffende Unionsbürger allerdings nur berufen, wenn er während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahmemitgliedstaat begründet habe. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genüge insoweit nicht. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmemitgliedstaat impliziere, dass die betreffende Person den Willen zum Ausdruck gebracht habe, dort tatsächlich den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen zu errichten, und nachweise, dass ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft sei, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden.

EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-411/20

Redaktion beck-aktuell, 1. August 2022.