Der EuGH verhandelt am heutigen Dienstag eine Schadensersatzklage gegen Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (C-679/23 P). Sechs syrische Geflüchtete machen geltend, im Zuge einer Rückführung aus Griechenland in die Türkei Opfer zahlreicher Grundrechtsverletzungen geworden zu sein. Sollte der EuGH ihrer Klage stattgeben - anders als erstinstanzlich noch das EuG -, wäre es das erste Urteil dieser Art gegen Frontex. Würde die Agentur nicht verurteilt, könnte dies den Eindruck ihrer mangelnden Verantwortung stärken, die vielen ein Dorn im Auge einer Europäischen Union ist, die auf der rule of law basiert.
Wer haftet für Rechtsverletzungen durch Frontex?
Im Mittelpunkt des Frontex-Verfahrens steht die Frage, wer die Verantwortung für Grundrechtsverletzungen trägt, wenn mehrere Akteure mit unterschiedlichen normativen Kompetenzen in komplexen Operationen tätig werden. Den Kontext liefert in Zeiten integrierter Verwaltungsstrukturen zwischen nationaler und unionaler Ebene der Schutz der EU-Außengrenzen. Originär handelt es sich dabei um eine Aufgabe der Mitgliedstaaten, auf die Frontex jedoch mittlerweile erheblichen faktischen Einfluss nimmt.
Das Verfahren vor dem EuGH gibt Anlass für Systemfragen: Es steht der Vorwurf im Raum, unter Beteiligung von Frontex sei es zu schwerwiegenden Rechtsverletzungen gekommen, etwa des Rechts auf Asyl und des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, des Verbots der Kollektivausweisung sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Dabei handelt es sich um in der Grundrechtecharta der Union garantierte Rechte, an die auch Frontex gebunden ist. Ist also die einzige Option eine unionale Amtshaftungsklage?
In der Theorie ist die Haftungsfrage eindeutig: Die Union haftet im Bereich der außervertraglichen Haftung für den Schaden, der durch ihre Bediensteten verursacht wurde (Art. 340 Abs. 2 AEUV). In der Praxis fristen Amtshaftungsklagen – wie gleich gezeigt wird, zu Unrecht – eher ein Schattendasein, zumal im Bereich der Menschenrechte. Grund dafür ist ein System, das zwar operativ auf eine enge Verzahnung zwischen den Mitgliedstaaten und Frontex setzt. Auf der Ebene nachgelagerten Rechtsschutzes jedoch nimmt dieses System zumindest billigend in Kauf, dass Handlungen der Agentur sich einer gerichtlichen Kontrolle weitestgehend entziehen.
Frontex‘ erheblicher Einfluss auf den Grenzschutz
Frontex ist eine Einrichtung der Union mit eigener Rechtspersönlichkeit und kann dementsprechend verklagt werden. Um nun zu verstehen, warum gleichwohl ein strukturelles Verantwortungsdefizit bemängelt wird, bedarf es eines kurzen Überblicks über das Aufgabenfeld der Agentur. Frontex unterstützt die Mitgliedstaaten vor allem durch den institutionalisierten Austausch von Informationen dabei, ihre Außengrenzen zu schützen. Insoweit handelt es sich um eine typische Unterstützungstätigkeit, die auf Unionsebene regelmäßig in spezialisierte Agenturen ausgelagert wird.
Art. 7 Frontex-VO legt fest, dass die Grenzverwaltung in gemeinsamer Verantwortung wahrgenommen wird, die Mitgliedstaaten aber für die Verwaltung ihrer Abschnitte der Außengrenzen vorrangig zuständig sind. Faktisch hat Frontex jedoch einen erheblichen Einfluss auf die Grenzschutzaktivitäten der Mitgliedstaaten, weil die Agentur wesentliche Informationen für die Einsatzplanung liefert, diese in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten koordiniert und Einsatzpläne erstellt. Seit 2019 hat Frontex auch eigene Beamtinnen und Beamten, die in die jeweiligen Mitgliedstaaten entsendet werden können und die lokalen Behörden operativ unterstützen.
Die Amtshaftungsklage im Fokus
Das prozessuale Problem: Die meisten Verfahrensarten vor den europäischen Gerichten kommen für Klagen gegen Realakte von Frontex nicht in Frage. Frontex hat keine Weisungsbefugnis gegenüber den mitgliedstaatlichen Behörden, weswegen eine Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) ausscheidet. Es fehlt an der rechtlich bindenden Entscheidung mit Außenwirkung. Derartige Entscheidungen ergehen im Kontext konkreter Grenzschutzeinsätze erst recht nicht gegenüber den von Maßnahmen betroffenen geflüchteten Personen.
Ein Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) könnte lediglich mittelbar dazu führen, dass Realakte der Agentur von den europäischen Gerichten überprüft werden. Hinzu kommt, dass der EuGH für Klagen gegen Frontex ausschließlich zuständig ist. Entscheidungen nationaler Gerichte beschränken sich daher auf Handlungen nationaler Beamtinnen und Beamten. Die Betroffenen können in vielen Fällen vor den EGMR ziehen und die an den Einsätzen beteiligten (europäischen) Staaten verklagen. Das mag es insgesamt komplexer und langwieriger machen, könnte jedoch den Vorwurf abmildern, es bestehe kein effektiver Rechtsschutz. Es führt aber ebenfalls nicht dazu, dass Frontex effektiv gerichtlich kontrolliert und über ihre (Mit-)Verantwortung entschieden wird.
Damit rückt die Amtshaftungsklage in den Fokus. Mit dieser Klageart können Realakte auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Sie ist im Vergleich zu den anderen Verfahren prozessual zugänglicher. Als Instrument, das zwar ursprünglich für den Ersatz wirtschaftlicher Schäden gedacht war, kann sie auch für Menschenrechtsverletzungen herangezogen werden kann.
EuG legte Kausalität eng aus
Das hat grundsätzlich auch das EuG so gesehen, das mit der Klage erstinstanzlich befasst war. Es erklärte im September 2023 die Klage für zulässig, lehnte den Anspruch im Ergebnis jedoch ab (Rs. T-600/21). Es begründete dies vor allem mit der mangelnden Kausalität der Handlungen von Frontex-Beamtinnen und -Beamten für den eingetretenen Schaden. Der Grund hierfür sei, dass die Agentur lediglich unterstützend tätig werde und die Letztentscheidungsbefugnis über eine Rückführung beim jeweiligen Mitgliedstaat liege.
Dass die Klage die Hürde der Zulässigkeit genommen hatte, wurde als prozessstrategischer Erfolg gewertet, schließlich handelte es sich um die erste derartige "grundrechtliche" Amtshaftungsklage gegen Frontex. Inhaltlich wurde die Entscheidung teilweise stark kritisiert.
Das EuG stütze sich in seiner Argumentation lediglich auf die normativen Befugnisse der Agentur. Dies vernachlässige jedoch, dass mit der Klage gerade keine Handlungen der Agentur im Rahmen ihrer Befugnisse angegriffen werden sollten. Vielmehr ginge es um die Frage, ob Frontex im Rahmen der Rückführungsaktion gegen Grundrechte, zu deren Schutz sie verpflichtet ist, verstoßen habe. Anders gewendet: Es gehe nicht darum, ob Frontex in dem Rückführungsverfahren Entscheidungen treffen durfte, sondern ob die Frontex-Beamtinnen und -Beamten während der Rückführung tatsächlich Grundrechtsverletzungen begangen haben. In der Entscheidung offenbarte sich für viele Beobachterinnen und Beobachter ein strukturelles Problem. Mit diesem streng formalen, an den normativen Kompetenzen orientierten Verständnis einer Kausalität werde Frontex vor jeglicher Haftung „abgeschirmt“, so die Kritik.
EuGH könnte neue Maßstäbe setzen
Nun entscheidet der EuGH. Das Frontex-Verfahren ist unter mehreren Gesichtspunkten bedeutsam: Es ist das erste Gerichtsverfahren, in dem die Frage nach der Haftung der Agentur für Verstöße gegen ihre grundrechtlichen Verpflichtungen verhandelt wird. Die prozessuale Einkleidung in eine Amtshaftungsklage ist im Hinblick auf die Frage effektiven Rechtsschutzes prozessstrategisch und rechtspolitisch interessant. Das Verfahren behandelt grundlegende Rechtsfragen der Verantwortungszuordnung, mit denen sich das Europarecht bisher unzureichend auseinandergesetzt hat und wirft ein Schlaglicht auf komplexe unionale Verwaltungsstrukturen und deren rechtliche Kontrolle.
Zwar handelt es sich bei den Einsätzen von Frontex um ein besonders plakatives Anwendungsbeispiel integrierter Verwaltung. Diese Strukturen finden sich jedoch nicht nur im Bereich des unionalen Außengrenzschutzes, sondern beispielsweise auch in Bereichen von Asylentscheidungen der Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Asylagentur der Europäischen Union und im Bankenrecht.
Die Mitgliedstaaten und die Union befürworten grundsätzlich, dass staatliche und unionale Stellen in hohem Maße integriert zusammenarbeiten, um das (Unions-)Recht möglichst effektiv durchzusetzen. Wie das Frontex-Verfahren zeigt, lohnt sich jedoch der kritische Blick auf Fragen der Haftung aller beteiligten Stellen und die Vereinbarkeit mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz. Der Gerichtshof hat nun die Gelegenheit, Maßstäbe für die gemeinsame Verantwortung an den EU-Außengrenzen zu entwickeln.
Christopher Paskowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dieter Hubertus Pawlik Stiftungslehrstuhl Kritik des Rechts an der Bucerius Law School, Hamburg. Er promoviert an der Universität Hamburg zu Fragen der Amtshaftung von Frontex für Menschenrechtsverletzungen vor den europäischen Gerichten.