Aggressive Steuerplanung: Unterrichtungspflicht für Rechtsanwälte verletzt Berufsgeheimnis

Die Verpflichtung des Rechtsanwalts, die anderen an einer aggressiven, grenzüberschreitenden Steuergestaltung beteiligten Intermediäre über ihre Meldepflicht zu informieren, verletzt das Berufsgeheimnis. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Die Unterrichtungspflicht sei nicht erforderlich, da durch die Meldepflicht der anderen Intermediäre gewährleistet sei, dass die Steuerverwaltung informiert wird.

Verpflichtung von Rechtsanwälten zur Unterrichtung der anderen Intermediäre zulässig? 

Die Richtlinie 2011/16/EU sieht vor, dass alle Intermediäre, die an potentiell aggressiven, grenzüberschreitenden Steuerplanungen beteiligt sind, diese den zuständigen Steuerbehörden melden müssen. Diese Verpflichtung betrifft alle, die an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung dieser Gestaltungen beteiligt sind. Außerdem sind auch diejenigen erfasst, die Unterstützung oder Beratung leisten, oder der Steuerpflichtige selbst. Allerdings kann jeder Mitgliedstaat die Rechtsanwälte von dieser Pflicht befreien, wenn sie gegen eine nach nationalem Recht vorgesehene Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen sind die Intermediäre jedoch verpflichtet, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gegenüber den zuständigen Behörden zu unterrichten. Letzteres sieht in Belgien ein Dekret zur Umsetzung der Richtlinie in der Flämischen Region vor. Zwei Anwaltsverbände rügten beim belgischen Verfassungsgerichtshof, dass es unmöglich sei, der Verpflichtung zur Unterrichtung der anderen Intermediäre nachzukommen, ohne das anwaltliche Berufsgeheimnis zu verletzen. Der belgische Verfassungsgerichtshof rief dazu den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.

EuGH: Unterrichtungspflicht verletzt Berufsgeheimnis 

Laut EuGH verletzt die Unterrichtungspflicht das Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, das durch Art. 7 der EU-Grundrechtecharta besonders geschützt ist. Das Berufsgeheimnis umfasse auch die Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch hinsichtlich ihrer Existenz. Abgesehen von Ausnahmefällen müssten Mandanten daher darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren. Die Unterrichtungspflicht der Rechtsanwalts-Intermediäre greife in dieses Recht ein. Denn sie habe zur Folge, dass die anderen Intermediäre von der Identität des Rechtsanwalt-Intermediärs Kenntnis erlangten. Sie erführen auch von seiner Analyse, wonach die in Rede stehende Steuergestaltung meldepflichtig sei, und von der Tatsache, dass er zu diesem Thema konsultiert werde. Da die anderen Intermediäre verpflichtet seien, die zuständigen Steuerbehörden über die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalts zu informieren, bewirke diese Verpflichtung mittelbar auch einen zweiten Eingriff in das Recht auf das Berufsgeheimnis. 

Unterrichtungspflicht zur Zielerreichung nicht erforderlich 

Dieser Eingriff sei auch nicht gerechtfertigt, so der EuGH weiter. Die 2018 vorgenommene Änderung der Richtlinie diene zwar dem Ziel, Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu verhindern, und damit einem Gemeinwohlziel. Die Unterrichtungspflicht sei aber nicht erforderlich, da alle Intermediäre zur Vorlage dieser Informationen bei den zuständigen Behörden verpflichtet seien. Die Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt-Intermediärs durch die unterrichteten Drittintermediäre an die Steuerverwaltung sei ebenfalls nicht erforderlich. Durch die Meldepflicht der anderen, nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Intermediäre und sonst des relevanten Steuerpflichtigen werde grundsätzlich gewährleistet, dass die Steuerverwaltung informiert wird. Außerdem könne die Steuerverwaltung, nachdem sie eine solche Information erhalten habe, bei Bedarf ergänzende Informationen unmittelbar vom relevanten Steuerpflichtigen verlangen, der sich dann für Beistand an seinen Rechtsanwalt wenden könne. Die Steuerverwaltung könne auch eine Überprüfung der steuerlichen Situation dieses Steuerpflichtigen durchführen.

EuGH, Schlussanträge vom 15.12.2022 - C‑311/21

Redaktion beck-aktuell, 8. Dezember 2022.