Grenzen der Vollstreckung eines EU-Haftbefehls

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf grundsätzlich nicht unter Berufung auf die fehlende Zuständigkeit des Gerichts abgelehnt werden, das über die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat Recht zu sprechen hat. Werden allerdings systemische oder allgemeine Mängel des Justizsystems und die offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichts festgestellt, müsse die Vollstreckung abgelehnt werden, so der Europäische Gerichtshof.

Belgische Gerichte lehnten Auslieferung früheren katalanischen Politikers ab

Nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums Kataloniens 2017 wurden mehrere frühere katalanische Politiker angeklagt, insbesondere wegen Aufruhrs und der Veruntreuung öffentlicher Gelder. Einige der Angeklagten flohen aus Spanien nach Belgien, darunter der frühere katalanische Kulturminister Lluís Puig Gordi. Gegen sie wurden daher Europäische Haftbefehle ausgestellt. Die belgischen Gerichte lehnten es aber ab, den gegen Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Sie sahen die Gefahr eines Verstoßes gegen dessen Recht, vor ein durch Gesetz errichtetes Gericht gestellt zu werden. Denn die Zuständigkeit des spanischen Obersten Gerichtshofs, über die gesuchten Personen Recht zu sprechen, beruhe auf keiner ausdrücklichen Rechtsgrundlage. Der spanische Oberste Gerichtshof wollte in der Folge wissen, ob die Ablehnung im Einklang mit dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl steht und legte dem EuGH dazu mehrere Auslegungsfragen vor. 

EuGH: Grundsätzlich keine Ablehnung allein auf Grundlage nationalen Rechts 

Der EuGH unterstreicht die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten, die im Rahmen des Europäischen Haftbefehls tragend seien, betont aber zugleich die grundlegende Bedeutung des Grundrechts auf ein faires Verfahren. Daraus folge, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht unter Berufung auf einen Ablehnungsgrund ablehnen darf, der nur aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hervorgehe. Allerdings dürfe sie die Vollstreckung unter Anwendung einer nationalen Bestimmung ablehnen, wenn die Vollstreckung zu einem Verstoß gegen ein unionsrechtliches Grundrecht führen würde. 

Grundsätzlich keine Überprüfung der Zuständigkeit des Recht sprechenden Gerichts 

Die vollstreckende Justizbehörde dürfe auch nicht überprüfen, ob ein EU-Haftbefehl von einer nach dem nationalen Recht des Ausstellungsmitgliedstaats zuständigen Justizbehörde ausgestellt wurde, und seine Vollstreckung nicht ablehnen, wenn sie die Behörde für unzuständig hält. Mache die gesuchte Person aber geltend, ihr drohe im Ausstellungsmitgliedstaat eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren, weil dort ein unzuständiges Gericht über sie Recht sprechen werde, müsse die vollstreckende Justizbehörde die Stichhaltigkeit dieser Behauptung prüfen. Dies habe im Rahmen der vom EuGH entwickelten zweistufigen Prüfung zu erfolgen. 

Ablehnung bei Feststellung systemischer Mängel und offensichtlicher Unzuständigkeit 

Die vollstreckende Behörde müsse dann also zunächst prüfen, ob aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats oder wegen Mängeln, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe, der die betreffende Person angehöre, eine echte Gefahr der Verletzung dieses Rechts besteht. In einem zweiten Schritt müsse sie gegebenenfalls konkret und genau prüfen, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person, der Art der Straftat und des Sachverhalts ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Laut EuGH kann die Vollstreckung nur dann wegen fehlender Zuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person Recht zu sprechen habe, abgelehnt werden, wenn die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen solcher Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat und die offensichtlich fehlende Zuständigkeit dieses Gerichts bejahe. 

Vor Ablehnung zusätzliche Informationen bei Ausstellungsbehörde anzufragen 

Außerdem müsse gemäß der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit vor der Ablehnung der Vollstreckung aufgrund offensichtlich fehlender Zuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person Recht zu sprechen habe, die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen gebeten werden, wie es der Rahmenbeschluss vorsehe. Schließlich führt der EuGH noch aus, dass nacheinander mehrere EU-Haftbefehle gegen eine gesuchte Person ausgestellt werden könnten, um ihre Übergabe durch einen Mitgliedstaat zu erreichen, nachdem die Vollstreckung eines ersten EU-Haftbefehls von diesem Mitgliedstaat abgelehnt worden sei. Allerdings dürfe die Vollstreckung des neuen EU-Haftbefehls nicht zu einer Verletzung der Grundrechte dieser Person führen und seine Ausstellung müsse verhältnismäßig sein. 

EuGH, Urteil vom 31.01.2023 - C-158/21

Redaktion beck-aktuell, 31. Januar 2023.