Abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils

Der Europäische Gerichtshof bejaht ein Recht auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht wegen eines Abhängigkeitsverhältnisses eines minderjährigen EU-Bürgers von einem drittstaatsangehörigen Elternteil, wenn der Minderjährige gezwungen sein könnte, das Gebiet der EU zu verlassen, um seinem drittstaatsangehörigen Elternteil zu folgen, der selbst gezwungen ist, die EU zu verlassen, weil seinem anderen minderjährigen Kind, einem Drittstaatsangehörigen, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht verweigert wurde.

Aufenthaltskarten für Familienangehörige wurden verwehrt

In den zwei verhandelten Fällen (Az.: C-451/19 und C-532/19) ging es jeweils um Familien, die aus einem EU-Elternteil und einem Drittstaats-Elternteil bestehen. Beide hatten ein gemeinsames Kind, ebenfalls mit EU-Staatsbürgerschaft. In einem der Fälle hatte das Drittstaats-Elternteil ein weiteres Kind aus einer früheren Beziehung, das ebenfalls kein EU-Bürger ist. Die Elternteile, die keine EU-Bürger sind, stellten jeweils einen Antrag auf Erteilung einer zeitlich befristeten Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern. Die Anträge wurde von den spanischen Behörden abgelehnt. Im ersten Fall habe der Antragsteller nicht nachgewiesen, dass er für sich selbst und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfüge, um keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Im zweiten Fall war der Antragsteller vorbestraft und seine Ehefrau verfügte nach Ansicht der Behörden für sich selbst und die Familienangehörigen nicht über ausreichende Existenzmittel.

EuGH bejaht unter Verweis auf frühere Rechtsprechung Verstoß gegen EU-Recht

Das in Spanien mit der Sache befasste Obergericht Kastilien-La Mancha brachte die Sache vor den EuGH. Dieser stellt entsprechend seinem Urteil "Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real" (NVwZ 2020, 622) fest, dass es nicht mit EU-Recht vereinbar ist, Anträge auf Familienzusammenführung abzulehnen, ohne dass geprüft worden wäre, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger zum Verlassen des Gebiets der Union zwingen könnte, wenn dem Familienangehörigen kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wird. Der EuGH bestätigt zudem, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht allein deshalb besteht, weil der Unionsbürger und sein drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der EU-Bürger besitzt und in dem die Ehe geschlossen wurde, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind.

Bei involvierten minderjährigen EU-Bürgern alle Umstände im Hinblick auf Kindeswohl zu berücksichtigen

Ist im Übrigen der Unionsbürger minderjährig, müsse die Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen Elternteil dieses Kindes ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, auf die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf das Wohl des Kindes gestützt werden. Der EuGH betont, dass ein solches Abhängigkeitsverhältnis, wenn dieser Elternteil dauerhaft mit dem anderen Elternteil, der Unionsbürger ist, zusammenlebt, widerlegbar vermutet wird. Wenn nämlich der minderjährige Unionsbürger mit beiden Elternteilen dauerhaft zusammenlebt und sie sich daher tagtäglich das Sorgerecht für dieses Kind teilen sowie dessen rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge wahrnehmen, könne dieses Abhängigkeitsverhältnis vermutet werden, und zwar unabhängig davon, dass der andere Elternteil als Staatsangehöriger des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet diese Familie ansässig ist, über ein unbedingtes Recht verfügt, im Gebiet dieses Mitgliedstaats zu verbleiben. Gleichwohl könnten die Mitgliedstaaten selbst in diesem Fall dem drittstaatsangehörigen Elternteil unter bestimmten Voraussetzungen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Gründen verweigern, die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit zusammenhängen.

Besonderheit bei zwei Kindern, von denen eines EU-Bürger ist

Sodann stellt der EuGH fest, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, besteht, wenn aus der Verbindung zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Kind mit Unionsbürgerschaft hervorgegangen ist, das nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn das drittstaatsangehörige minderjährige Kind seinerseits gezwungen wäre, das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen. Denn der drittstaatsangehörige Elternteil, der mit dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind zusammenlebt, könnte gezwungen sein, es zu begleiten, was auch sein minderjähriges Kind mit Unionsbürgerschaft zwingen könnte, dieses Gebiet zu verlassen.

EuGH, Urteil vom 05.05.2022 - C-451/19

Redaktion beck-aktuell, 6. Mai 2022.