Polen: Änderungen an Gesetz über den Landesjustizrat eventuell EU-rechtswidrig

Die schrittweisen Änderungen des polnischen Gesetzes über den Landesjustizrat, die dazu geführt haben, dass Vorschläge des Landesjustizrats für Ernennungen von Richtern beim polnischen Obersten Gericht nicht mehr (effektiv) überprüft werden können, könnten gegen das Unionsrecht verstoßen. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Ob dies der Fall sei, müsse aber das Vorlagegericht entscheiden.

Mehrere Bewerber vom Landesjustizrat nicht für Oberstes Gericht vorgeschlagen

In Polen werden Richter am Oberstes Gericht auf Vorschlag des Landesjustizrats vom polnischen Präsidenten ernannt. Im August 2018 unterbreitete der Landesjustizrat dem Präsidenten Vorschläge für die Besetzung von acht Richterstellen am Oberstes Gericht. Die fünf Beschwerdeführer, die sich auch auf diese Stellen beworben hatten, wurden nicht berücksichtigt. Sie erhoben dagegen beim Obersten Verwaltungsgericht Beschwerde.

Reform 2018: Bestandskraft von Vorschlägen trotz Beschwerde

Nach dem Gesetz über den Landesjustizrat in der Fassung vom Juli 2018 wurde eine Entscheidung des Landesjustizrats für einen vorgeschlagenen Kandidaten bestandskräftig, wenn nicht sämtliche Teilnehmer des Auswahlverfahrens sie anfochten, de facto also immer. Der vorgeschlagene Kandidat konnte dann vom Präsidenten ernannt werden. Wurde die Entscheidung des Landesjustizrats auf Beschwerde eines nicht vorgeschlagenen Teilnehmers hin in diesem Teil aufgehoben, hatte dies nicht zur Folge, dass seine Bewerbung auf die betreffende freie Stelle erneut geprüft wurde. Ferner konnte eine solche Beschwerde nicht damit begründet werden, dass unzutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die bei der Entscheidung über die Einreichung des Ernennungsvorschlags berücksichtigten Kriterien erfüllten.

Reform 2019: Beschwerdeausschluss gegen Entscheidung des Landesjustizrats

Ursprünglich wollte das Vorlagegericht vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren wissen, ob die das beschriebene Beschwerderecht mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Es vertrat die Ansicht, dass eine solche Regelung in der Praxis jede Wirksamkeit der Beschwerde eines nicht zur Ernennung vorgeschlagenen Teilnehmers ausschließe. Dann wurde das Gesetz über den Landesjustizrat 2019 erneut geändert. Danach können nun keine Beschwerden mehr gegen Vorschläge oder Nicht-Vorschläge des Landesjustizrats für Richterstellen des Obersten Gerichts erhoben werden. Außerdem wurden noch anhängige Beschwerden dieser Art von Rechts wegen für erledigt erklärt. Damit wurde dem vorlegenden Gericht de facto seine Zuständigkeit für die Entscheidung über diese Art von Rechtsbehelfen entzogen sowie die Möglichkeit genommen, eine Antwort auf die vorgelegten Fragen zu erhalten. Daher bat das vorlegende Gericht den EuGH ergänzend auch um Klärung, ob diese neue Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

EuGH: EU-Rechtsverstoß wegen absichtlicher Verhinderung einer Vorabentscheidung möglich

Der EuGH entscheidet zunächst, dass sowohl das durch Art. 267 AEUV geschaffene System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof als auch der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit den Änderungen von 2019 (Beschwerdeausschluss, Erledigterklärung noch anhängiger Beschwerden) entgegenstehen könnte. Dies sei dann der Fall, wenn sich herausstelle, dass sie die spezifische Wirkung haben, den Gerichtshof daran zu hindern, zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen wie die hier unterbreiteten zu beantworten, und jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft ähnliche Fragen erneut vorlegt. Dies müsse das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände, insbesondere des Kontexts, in dem der polnische Gesetzgeber diese Änderungen erlassen habe, prüfen.

Beschwerdeausschluss könnte gegen Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verstoßen

Laut EuGH könnte der Ausschluss des Beschwerderechts gegen Vorschlagsentscheidungen des Landesjustizrats gegen das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen. Das Fehlen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs bei Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts könne problematisch sein, wenn alle maßgeblichen Begleitumstände, die ein solches Verfahren kennzeichnen, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter wecken können. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn sich die Unabhängigkeit des Landesjustizrats von  Legislative und Exekutive als zweifelhaft herausstellt. Das müsse das vorlegende Gericht prüfen. Sollte es anhand aller maßgeblichen Umstände und insbesondere wegen der jüngsten Gesetzesänderungen zum Verfahren zur Ernennung der Mitglieder des Landesjustizrats zu dem Ergebnis kommen, dass dieser keine hinreichenden Garantien für seine Unabhängigkeit bietet, wäre ein gerichtlicher Rechtsbehelf für erfolglose Kandidaten erforderlich, um letztlich zu verhindern, dass Zweifel an der Unabhängigkeit der schließlich ernannten Richter entstehen.

Beschwerdeausschluss wäre bei Unionsrechtswidrigkeit unangewendet zu lassen

Sollte das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen, dass der Erlass der Gesetzesänderungen von 2019 unter Verstoß gegen das Unionsrecht erfolgt ist, müsste es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts diese Änderungen unabhängig davon unangewendet lassen, ob diese gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur sind, so der EuGH weiter. Es müsste dann seine frühere Zuständigkeit für die Entscheidung über die vor diesen Änderungen bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten weiterhin wahrnehmen.

Änderungen von 2018 könnten ebenfalls unionsrechtswidrig sein

Die Gesetzesänderungen von 2018 verstießen dem EuGH zufolge ebenfalls gegen das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wenn sich herausstellte, dass die Unabhängigkeit der auf ihrer Grundlage ernannten Richter zweifelhaft ist. Dies müsse wiederum das vorlegende Gericht prüfen. Der EuGH weist aber darauf hin, dass sich die Rechtsbehelfsbestimmungen als problematisch erweisen könnten, wenn sie die Wirksamkeit des bis dahin bestehenden Rechtsbehelfs beseitigen. Erstens habe die Beschwerde infolge der Gesetzesänderungen von 2018 keinerlei echte Wirksamkeit mehr und biete nur noch den Anschein eines gerichtlichen Rechtsbehelfs. Zweitens seien im vorliegenden Fall auch die Begleitumstände aller anderen Reformen zu berücksichtigen, die in letzter Zeit das Oberste Gericht und den Landesjustizrat betroffen hätten. Über die zuvor erwähnten Zweifel an der Unabhängigkeit des Landesjustizrats hinaus weist der EuGH dabei auf Folgendes hin: Die Änderungen von 2018 seien sehr kurz vor dem Zeitpunkt eingeführt worden, zu dem der Landesjustizrat in seiner neuen Zusammensetzung über Bewerbungen wie die der Beschwerdeführer für zahlreiche Richterstellen am Obersten Gericht habe entscheiden müssen, die aufgrund des Inkrafttretens verschiedener Änderungen des Gesetzes über das Oberste Gericht für unbesetzt erklärt oder neu geschaffen worden seien.

Änderungen 2018 wären bei Unionsrechtswidrigkeit ebenfalls unangewendet zu lassen

Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass die Gesetzesänderungen von 2018 gegen das Unionsrecht verstoßen, müsse es diese Änderungen zugunsten der Anwendung der zuvor geltenden nationalen Bestimmungen unangewendet lassen und die in diesen Bestimmungen vorgesehene Kontrolle selbst ausüben.

EuGH, Urteil vom 02.03.2021 - C-824/18

Redaktion beck-aktuell, 3. März 2021.