EuGH: A1-Entsendebescheinigung über Zuständigkeit des Sozialversicherungssystems grundsätzlich bindend

Eine A1-Bescheinigung über die Eingliederung eines Entsendearbeitnehmers in das System der sozialen Sicherheit des Herkunftsmitgliedstaats ist sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit als auch für die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Arbeiten ausgeführt werden, grundsätzlich bindend, solange sie vom Herkunftsmitgliedstaat weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 06.09.2018 entschieden. Ausgenommen seien Fälle von Betrug oder Rechtsmissbrauch (Az.: C-527/16).

Arbeitnehmer aus Ungarn nach Österreich entsandt

Die österreichische Gesellschaft Alpenrind betreibt in Salzburg einen Schlachthof. In den Jahren 2012 bis 2014 ließ sie dort das Fleisch von nach Österreich entsandten Arbeitnehmern der ungarischen Gesellschaft Martimpex zerlegen und verpacken. Vor und nach diesem Zeitraum wurden die Arbeiten von Arbeitnehmern einer anderen ungarischen Gesellschaft, Martin-Meat, ausgeführt.

A1-Bescheinigungen über Zuständigkeit des ungarischen Sozialversicherungssystems ausgestellt

Für die etwa 250 von Martimpex entsandten Arbeitnehmer stellte der ungarische Sozialversicherungsträger – teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen der österreichische Sozialversicherungsträger bereits festgestellt hatte, dass die betreffenden Arbeitnehmer in Österreich pflichtversichert seien – A1-Bescheinigungen über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit aus.

Vorlagegericht befragt EuGH zur Bindungswirkung von A1-Bescheinigungen

Der Bescheid des österreichischen Sozialversicherungsträgers über die Pflichtversicherung der Arbeitnehmer nach den österreichischen Rechtsvorschriften wurde vor den österreichischen Gerichten angefochten. In diesem Zusammenhang bat der österreichische Verwaltungsgerichtshof den EuGH um Erläuterungen zu den Unionsvorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004 und VO (EG) Nr. 987/2009) und insbesondere zur Bindungswirkung der A1-Bescheinigung.

EuGH: A1-Bescheinigung grundsätzlich bindend

Laut EuGH ist eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats (hier: Ungarn) ausgestellte A1-Bescheinigung sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit als auch für die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird (hier: Österreich), grundsätzlich verbindlich, solange sie vom Ausstellerstaat weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist. Ausgenommen seien Betrug und Rechtsmissbrauch.

Wertung der Verwaltungskommission ohne Einfluss auf Bindungswirkung

Dies gelte auch dann, wenn die zuständigen Behörden der beiden Mitgliedstaaten – wie hier – die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt worden sei und widerrufen werden sollte, so der EuGH weiter. Denn die Rolle der Verwaltungskommission beschränke sich in diesem Rahmen auf eine Annäherung der Standpunkte der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die sie angerufen hätten, und ihre Schlussfolgerungen hätten den Stellenwert einer Stellungnahme.

A1-Bescheinigung kann Rückwirkung entfalten

Ferner stellt der EuGH fest, dass eine A1-Bescheinigung Rückwirkung entfalten könne, auch wenn zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt werde (Österreich), bereits entschieden habe, dass der betreffende Arbeitnehmer der Pflichtversicherung dieses Mitgliedstaats unterliegt.

Grundsätzlich Sozialversicherungssystem am Arbeitsort maßgeblich

Darüber hinaus kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass ein entsandter Arbeitnehmer, der einen von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen könne, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig sei. Denn in der Regel unterliege ein Arbeitnehmer dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem er arbeite, um insbesondere die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen am besten zu gewährleisten.

Keine Ausnahme bei ablösenden Entsendearbeitnehmern

Nur unter bestimmten Umständen habe der Unionsgesetzgeber die Möglichkeit vorgesehen, dass ein entsandter Arbeitnehmer weiterhin dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig sei. Ausgeschlossen habe der Verordnungsgeber diese Möglichkeit, wenn der entsandte Arbeitnehmer eine andere Person ablöst. Ein solcher Fall liege vor, wenn ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

EuGH, Urteil vom 06.09.2018 - C-527/16

Redaktion beck-aktuell, 6. September 2018.

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