Die Westsahara ist ein Gebiet an der Atlantikküste im Nordwesten Afrikas, das im Norden an Marokko, im Nordosten an Algerien und im Osten und Süden an Mauretanien grenzt. Seit den 1970er Jahren ist der Status dieses Gebiets umstritten. Marokko erhebt Anspruch, während der Front Polisario sich dafür einsetzt, dass das Volk der Westsahara über sich selbst bestimmen und einen souveränen sahrauischen Staat gründen kann.
Dieser Streit erreicht den EuGH, weil Marokko seit einigen Jahren eine Reihe von Wirtschaftsabkommen geschlossen hat, die die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Westsahara und der an sie angrenzenden Gewässer umfassen. Auch die EU hat solche Abkommen mit Marokko geschlossen.
In diesem Kontext wandte sich der Front Polisario, der nach seinen Angaben das Volk der Westsahara vertritt, gegen die Handelsabkommen über Fischerei und die Landwirtschaft zwischen der Europäischen Union und Marokko. Im Jahr 2019 erhob er beim EuG Klagen auf Nichtigerklärung der Beschlüsse des Rates, mit denen diese Abkommen genehmigt wurden. Vor dem EuG erzielte die Bewegung einen Erfolg, die streitigen Beschlüsse wurden für nichtig erklärt, wobei sie für einen begrenzten Zeitraum weiter wirksam bleiben sollten. Die Kommission und der Rat zogen vor die Große Kammer des Gerichtshofs - ohne Erfolg (Urteil vom 04.10.2024 - C-778/21 P und C-798/21 P).
Ausdrückliche Zustimmung nur bei rein vorteilhaftem Abkommen nicht erforderlich
Einleitend erklärte der EuGH, der Front Polisario sei klagebefugt, da er bevorzugter Ansprechpartner im Rahmen des unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stattfindenden Prozesses zur Bestimmung des künftigen Status der Westsahara sei. Angesichts des Gegenstands der streitigen Beschlüsse und ihrer Auswirkungen auf das Selbstbestimmungsrecht des Volkes der Westsahara erfülle der Front Polisario die Voraussetzungen, um die streitigen Beschlüsse vor den Unionsgerichten im Interesse dieses Volkes anzufechten.
In der Sache entschied der EuGH, dass die streitigen Abkommen der Zustimmung des Volkes der Westsahara bedurft hätten, die aber fehle. Die Zustimmungspflicht ergebe sich aus der Rechtsprechung des EuGH und aus dem Recht auf Selbstbestimmung.
Zwar habe die EU-Kommission die Bevölkerung der Westsahara in ihre Konsultationen einbezogen, das sei aber nicht zielführend gewesen. Denn die Bevölkerung im Sinn der aktuellen Bewohner gehöre überwiegend nicht zum Volk der Westsahara. Ein großer Teil des Volkes der Westsahara befinde sich nämlich seit den 1970er Jahren im Exil und habe Zuflucht in Algerien gefunden.
Entgegen der Auffassung des EuG sieht der EuGH zwar die Möglichkeit, dass ein Abkommen auch ohne die ausdrückliche Zustimmung des Volkes der Westsahara rechtmäßig zustande gekommen sein könnte. Eine explizite Zustimmung sei nämlich dann entbehrlich, wenn das betreffende Abkommen keine Verpflichtung für dieses Volk schaffe, sondern sogar vorsehe, dass dem Volk ein präziser, konkreter, substanzieller und überprüfbarer Vorteil aus der Nutzung der natürlichen Ressourcen des Gebiets erwachse, der in angemessenem Verhältnis zum Ausmaß der Nutzung stehe. Der Gerichtshof fügte jedoch hinzu, dass das hier nicht der Fall sei. Die fraglichen Abkommen erlegten dem Volk der Westsahara zwar keine rechtlichen Verpflichtungen auf, aber die zweite Voraussetzung sei nicht erfüllt. Denn die fraglichen Abkommen verschafften dem Volk kein Recht und keinen Vorteil, insbesondere seien keine finanzielle Gegenleistung für die Nutzung der natürlichen Ressourcen dieses Gebiets oder der daran angrenzenden Gewässer vorgesehen.
Landwirtschaftsabkommen darf noch 12 Monate weiterwirken
Für das Fischereiabkommen, das im Juli 2023 ausgelaufen sei, habe die Nichtigerklärung keine Relevanz mehr, so der Gerichtshof. Anders sei es bei dem landwirtschaftlichen Abkommen: Hier entschied der EuGH, dass die Wirkungen dieses Abkommens, also die Maßnahmen zur Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, für einen Zeitraum von zwölf Monaten aufrechterhalten bleiben. Denn eine sofortige Nichtigerklärung würde schwerwiegende negative Folgen für das auswärtige Handeln der Union haben und die Rechtssicherheit gefährden, so der EuGH.
In Anwendung der gleichen Grundsätze des Völkerrechts äußert sich der Gerichtshof (Urteil vom 4.10.2024 - C-399/22) in einem weiteren Urteil auch zur Problematik der Kennzeichnung und Etikettierung von Melonen und Tomaten aus der Westsahara. Er stellte im Wesentlichen fest, dass auf dem Etikett allein die Westsahara und nicht Marokko als Ursprungsland dieser Erzeugnisse anzugeben sei, damit die Verbraucher nicht über ihren wahren Ursprung irregeführt werden.