Immer öfter versuchen die Staaten der Europäischen Union, Rechtsanwältinnen und Steuerberater dazu zu zwingen, bestimmte Informationen, die sie im Zusammenhang mit einem Mandat erlangen, dem Staat mitzuteilen. Zweck ist immer, insbesondere steuerliche und andere Missbräuche zu unterbinden, die zu Steuervermeidung oder Steuerhinterziehung führen könnten.
Über die Abgrenzung der Meldepflichten zur auch durch die Europäische Grundrechtecharta geschützten anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht hat der EuGH nun bereits zum zweiten Mal entschieden. Nachdem sie im Dezember 2022 (Urteil vom 08.12. 2022 - C- 694/20) erste wichtige Klarstellungen für die Anwaltschaft getroffen hatten, grenzen die Richterinnen und Richter in Luxemburg nun in ihrem Urteil von Montag (vom 29.7.2024 - C-623/22) die Pflichten verschiedener Beteiligter voneinander ab.
Widerstand von der belgischen Anwaltschaft
Die Richtlinie 2011/16/EU sieht seit einer Änderung im Jahr 2018 (durch die Richtlinie 2018/22) vor, dass alle, die an potenziell "aggressiven, grenzüberschreitenden Steuerplanungen" beteiligt sind (so heißt es in der Richtlinie, die diese Beteiligten als "Intermediäre" bezeichnet), diese den zuständigen Steuerbehörden melden müssen. Diese Verpflichtung trifft alle, die an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung dieser Gestaltungen beteiligt sind. Außerdem erfasst sie auch diejenigen, die Unterstützung oder Beratung leisten, und die Steuerpflichtigen selbst.
Allerdings kann, so sieht es die Richtlinie vor, jeder Mitgliedstaat Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen von dieser Pflicht befreien, wenn diese gegen eine nach nationalem Recht vorgesehene Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen muss die Anwaltschaft jedoch andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, die relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gegenüber den zuständigen Behörden unterrichten. Die Reichweite und die Auslegung dieser Richtlinie sind in den Berufsverbänden europaweit heftig umstritten.
Im Jahr 2020 riefen Vereinigungen von Steueranwälten und Steuerberaterinnen sowie Rechtsanwaltskammern den belgischen Verfassungsgerichtshof an. Sie waren der Ansicht, dass das belgische Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie für nichtig erklärt werden müsse, da die Richtlinie gegen eine Reihe von Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und gegen allgemeine Grundsätze des Unionsrechts verstoße. Insbesondere sei es viel zu weitgehend formuliert und greife in die Freiheit der Bürger zu tief ein.
Der belgische Verfassungsgerichtshof beschloss, dem EuGH verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dabei ging es insbesondere um konkrete Ausgestaltungen des belgischen Rechts anhand der Richtlinie und die Klärung des Verhältnisses zu z.B. der Grundrechtecharta.
EuGH: Meldepflicht grundsätzlich rechtmäßig
Der EuGH hat in seinem Urteil die Richtlinie in der aktuellen Fassung im Wesentlichen für europarechtskonform gehalten, für die Anwaltschaft aber weiterhin der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht den Vorrang eingeräumt.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die in der Richtlinie vorgesehene Meldepflicht nicht zu weit gefasst sei. Sie müsse nicht auf den Bereich der Gesellschaftsteuer beschränkt sein, sondern sei auch mit Blick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung EU-rechtskonform.
Sodann meinen die Luxemburger Richter und Richterinnen, dass die Richtlinie bestimmt genug formuliert sei, um auch den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit im Strafsachen zu genügen. Der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben der meisten Beteiligten (auch der Steuerpflichtigen selbst) sei hinreichend genau bestimmt. Die Meldepflicht der Beteiligten, die keiner Verschwiegenheitspflicht unterliegen, wie auch die subsidiäre Meldepflicht des betreffenden Steuerpflichtigen stellten einen verhältnismäßigen und gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens dar.
Unter besonderem Schutz: Vertraulichkeit der Mandant-Anwaltsbeziehung
Anderes aber gelte für die Anwaltschaft: Der EuGH habe, erinnern die Richterinnen und Richter, in seinem Urteil vom 8. Dezember 2022 entschieden, dass die Pflicht von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht von der Meldepflicht befreit sind, die anderen an der steuerlichen Gestaltung beteiligten Intermediäre über deren Meldepflichten zu unterrichten, das Berufsgeheimnis verletzt. Es gebe daher keine Pflicht der Anwaltschaft, selber tätig werden.
In seinem Urteil von Montag führt der EuGH nun darauf aufbauend aus, dass dieses Urteil aus 2022 nur für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen gilt, nicht aber für etwaige andere zur Vertretung vor Gericht ermächtigte Berufsangehörige wie etwa Steuerberater und Steuerberaterinnen.
Die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten genieße, so der Gerichtshof, einen ganz speziellen Schutz, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie aus der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergebe, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird. Daher sei eine Ausweitung auf andere freie Berufe nicht möglich, da diese keinen so weitgehenden Schutz genössen.
Rechtsberatung umfassend geschützt
Damit bleibt es für die Anwaltschaft in Europa dabei, dass das Berufsgeheimnis die Rechtsberatung sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch hinsichtlich ihrer Existenz umfasst. Abgesehen von Ausnahmefällen müssen Mandanten darauf vertrauen dürfen, dass ihr Rechtsanwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie sich von ihm beraten lassen und worum es in der Beratung geht.
Klar ist aber auch, dass die Meldepflicht der anderen, nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Beteiligten und auch des relevanten Steuerpflichtigen grundsätzlich gilt.
Auch das Urteil von Montag betrifft zwar grundsätzlich nur die belgische Regelung. In Deutschland hat es bisher solche Eingriffe in die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht in Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Richtlinie nicht gegeben. Aber immer wieder wird auch hierzulande - zum Beispiel im Rahmen der Geldwäschebekämpfung und anderer Meldepflichten - versucht, in die anwaltlichen Verschwiegenheitspflichten einzugreifen.
Diesen Versuchen schiebt der EuGH jetzt einen Riegel vor. Die in § 43a BRAO geregelte Verschwiegenheitspflicht, die bei Verstößen von der Strafnorm des § 203 StGB flankiert wird, wird dadurch deutlich gestärkt.
Coming soon: Wie weit geht die Verschwiegenheitspflicht?
Dem EuGH liegt noch ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren zur Reichweite des anwaltlichen Verschwiegenheitsrechts vor. In dem Verfahren C-432/23 geht es ebenfalls um die Frage, was im Sinne der Richtlinie 2011/16 in der Fassung aus 2018 unter die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht fällt.
Eine Luxemburger Sozietät vertritt dort die Auffassung, dass die Verschwiegenheitspflicht weit zu fassen sei. In ihren sehr lesenswerten Schlussanträgen vom 30. Mai 2024 hat auch die deutsche Generalanwältin beim EuGH, Juliane Kokott, sich sehr deutlich für eine weitreichende anwaltliche Verschwiegenheitspflicht ausgesprochen. Eine Beschränkung auf eine geschützte Beratung nur im Steuerrecht etwa sei mit der Verschwiegenheitspflicht nicht in Einklang zu bringen.
Es ist zu vermuten – und zu hoffen -, dass der EuGH nach seinem aktuellen Urteil und der Entscheidung aus 2018 dieser weiten Ansicht der Generalanwältin folgen und umfassend die Verschwiegenheitspflicht auch gegenüber der Steuerverwaltung schützen wird.
Martin W. Huff ist Rechtsanwalt in Singen (Hohentwiel) und war lange Jahre Geschäftsführer der Anwaltskammer Köln. Er publiziert regelmäßig zum anwaltlichen Berufsrecht.