Welchen Anforderungen muss das nationale Recht genügen, wenn seine materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften der Durchsetzung des Unionsrechts dienen? Diese Frage hat den EuGH immer wieder beschäftigt. Seit der Doppelentscheidung Rewe/Comet aus dem Jahr 1976 und einer Konkretisierung im Jahr 1983 in der Rechtssache San Giorgio hat sie der Gerichtshof mit einer Kompromissformel beantwortet: Zwar ist die Regelung der Modalitäten für die Durchsetzung unionsrechtlich fundierter Rechte Aufgabe des nationalen Rechts, die nationalen Regeln müssen aber dem Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz genügen.
Äquivalenz bedeutet, dass das nationale Recht nicht ungünstigere Regeln für die Durchsetzung des Unionsrechts vorsehen darf als für die Durchsetzung vergleichbarer nationaler Rechte. Praktisch bedeutsamer ist das Gebot der Effektivität: Die nationalen Vorschriften und Verfahren dürfen die Ausübung der Unionsrechte "nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren". Die Gretchenfrage ist nun, was "praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert" im Einzelfall bedeutet. Wenn der EuGH die Formel ausspricht, weiß man also nie, was er danach aus dem Hut zieht: Manchmal wenig oder nichts, manchmal aber auch – wie in der Diesel-Entscheidung (C-100/21) – eine grundlegende Neuerung für das nationale Recht.
LG Dortmund fragt nach Zulässigkeit von Sammelklagen-Inkasso
Mit großer Spannung wurden deshalb die Antworten der Großen Kammer auf eine Vorlage des LG Dortmund erwartet (Urteil vom 28.01.2025 – C-253/23). Dort ging es im Kern um die Frage, ob das deutsche Recht die gebündelte Geltendmachung individueller Kartellschadensansprüche in der Form des Sammelklagen-Inkasso aus Gründen der Effektivität gestatten muss, weil weder individuelle Klagen jedes einzelnen Geschädigten noch andere Instrumentarien zur gebündelten Anspruchsdurchsetzung hinreichend wirksam sind.
Dem Verfahren lag eine Klage der ASG 2 GmbH gegen das Land Nordrhein-Westfalen zugrunde, die auf den Ersatz des durch ein Kartell entstandenen Schadens gerichtet war. Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche waren der ASG 2 – einem Prozessvehikel – von 32 Sägewerken mit Sitz in Deutschland, Belgien und Luxemburg abgetreten worden. Sie wurden auf mehrere hunderttausend Rundholzbezüge der Sägewerke gestützt, mit anderen Worten: ein ausgesprochen komplexes Verfahren, in dem durch zigfache Abtretungen Schäden verschiedener Kläger wegen desselben Kartells geltend gemacht wurden.
Wie weit reicht das RDG?
Das Spannungsverhältnis zum Effektivitätsgebot ergab sich aufgrund der Besonderheiten des deutschen RDG. Die Klägerin machte infolge der Abtretungen zwar den Schadensersatz im eigenen Namen und auf eigene Kosten (finanziert durch einen Prozessfinanzierer) geltend. Geld an die Geschädigten fließen sollte aber erst, soweit die Ansprüche durchgesetzt werden können, wobei vom Erlös die Kosten der Rechtsdurchsetzung und ein Erfolgshonorar des Prozessfinanzierers abzuziehen sind. Eine solche Inkasso-Zession, also "die Einziehung fremder oder zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung abgetretener Forderungen", stellt eine Inkasso-Dienstleistung i.S.d. § 2 Abs. 2 S. 1 RDG und damit eine erlaubnispflichtige (§ 3 RDG) Rechtsdienstleistung dar.
Zwar verfügte die Klägerin über eine Erlaubnis. Allerdings haben die Instanzgerichte trotz Inkassoerlaubnis zuweilen dennoch einen Verstoß gegen § 3 RDG (wegen Überschreitung der Inkassoerlaubnis) oder § 4 RDG (wegen Interessenkollision) bejaht und infolge dieses Verstoßes sogar eine Nichtigkeit der Abtretung nach § 134 BGB angenommen. Mit drastischen Konsequenzen: Die Klage des Inkassodienstleisters ist bei Unwirksamkeit der Abtretung mangels Aktivlegitimation unbegründet, während der bei den Kartellgeschädigten verbliebene materielle Anspruch regelmäßig zwischenzeitlich verjährt.
Die Entscheidung des EuGH: Angst vor der eigenen Courage?
Im Verfahren vor dem EuGH wurde auch über die Frage gestritten, ob das Sammelklagen-Inkasso tatsächlich vom RDG untersagt wird und zur Nichtigkeit der Abtretung und damit zum Wegfall der Aktivlegitimation führt. Und in der Tat hat sich der BGH skeptisch zu einem Verbot des Sammelklagen-Inkassos durch das RDG geäußert. Nicht nur deshalb sprechen die besseren Gründe dafür, das Sammelklagen-Inkasso bereits nach nationalem Recht als zulässig anzusehen. Allerdings ist dies – wie das vorlegende LG Dortmund zutreffend ausgeführt hat – für das Kartelldeliktsrecht keinesfalls unstreitig oder höchstrichterlich entschieden, sodass die Vorlage zulässig und sinnvoll war.
In der Sache stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 2 Nr. 4 der Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104 zwar grundsätzlich von der Möglichkeit der Abtretung von Kartellschadensersatzansprüchen ausgeht, die Details – also die Wirksamkeit der Abtretung und ihre Vereinbarkeit mit Vorschriften wie dem RDG – aber nicht regelt und dem nationalen Recht überlässt. Damit war er beim Effektivitätsgrundsatz angekommen, den er sogleich auch beschwor und durch die Verpflichtung zur wirksamen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV und das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz (Art. 47 GRCh) anreicherte.
Im Vergleich zu den hehren Grundsätzen fiel die konkrete Antwort des Gerichtshofs magerer aus. Anders als etwa in der Diesel-Entscheidung gab er kein Ergebnis vor, sondern sah "allein das vorlegende Gericht" verpflichtet zu befinden, "ob durch eine Auslegung des nationalen Rechts in der Weise, dass ein Sammelklage-Inkasso in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten ausgeschlossen ist, eine Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs (…) unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird". Dabei habe es die nationalen Modalitäten zur Anspruchsdurchsetzung "in ihrer Gesamtheit" zu würdigen.
EuGH: Ein Verbot setzt wirksame Alternativen voraus
Immerhin gab der Gerichtshof eine Segelanweisung: Das nationale Gericht müsse den Ausschluss des Sammelklagen-Inkasso als unionsrechtlich unzulässig ansehen, wenn erstens kein alternativer Mechanismus zur gebündelten Geltendmachung im nationalen Recht eine wirksame Anspruchsdurchsetzung zulässt und zweitens auch die nationalen Voraussetzungen "für die Erhebung einer individuellen Klage die Durchsetzung dieses Schadensersatzanspruchs unmöglich machen oder übermäßig erschweren".
Dabei sei eine Bündelung individueller Forderungen im Wettbewerbsrecht zwar geeignet, die Durchsetzung der Schadensersatzansprüche zu erleichtern, vor allem bei Stand-Alone-Klagen. Aber dennoch lassen die Komplexität und Kosten wettbewerbsrechtlicher Schadensersatzklagen "für sich genommen (…) nicht die Schlussfolgerung zu, dass eine Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs im Rahmen einer individuellen Klage praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde". Zu einer solchen Schlussfolgerung könnte das vorlegende Gericht indes gelangen, wenn "konkrete Gesichtspunkte des nationalen Rechts der Erhebung solcher individueller Klagen entgegenstehen".
Wie geht es weiter?
Der EuGH hat hehre Worte und allgemeine Hinweise formuliert, die eigentliche Arbeit – nämlich die Beurteilung anhand des Effektivitätsgrundsatzes – wird das LG leisten müssen. Dabei wird es sowohl die deutschen Regeln zur Anspruchsbündelung im Prozess wie die Ausgestaltung der Individualklage in den Blick nehmen.
Beim kollektiven Rechtsschutz dürfte es zu dem Ergebnis kommen, dass andere wirksame Instrumente im deutschen Recht für die Durchsetzung kartelldeliktischer Ansprüche zwischen Unternehmern jedenfalls zum Zeitpunkt der Klageerhebung nicht existierten, sodass das Sammelklagen-Inkasso die einzig sinnvolle Möglichkeit der Anspruchsbündelung bietet.
Damit stellt sich nur noch die Frage, ob individuelle Klagen eine realistische Alternative wären. Sie dürfen zwar nicht allein wegen der generellen Komplexität und Kosten individueller Klagen im Wettbewerbsrecht als übermäßig schwierig und deshalb effektivitätswidrig beurteilt werden. Wohl aber können in dem konkreten Fall "konkrete Gesichtspunkte des nationalen Rechts der Erhebung solcher individueller Klagen entgegenstehen", wofür hier die besonders umfangreiche Anspruchsbündelung (32 Geschädigte, mehrere Hunderttausend Rundholzbezüge) und die daran im deutschen Recht geknüpften Beweis- und Kostenfolgen sowie der ansonsten unmögliche Zugang zu Prozessfinanzierung sprechen könnten.
RDG soll Sammelklagen-Inkasso nicht verhindern
Falls das LG eine übermäßige Schwierigkeit der individuellen Anspruchsdurchsetzung im konkreten Fall bejahen sollte, bleibt nur noch die Frage, ob die Schutzzwecke des RDG den Verweis auf die individuelle Anspruchsdurchsetzung rechtfertigen können. Diese Frage ist zu verneinen, weil das RDG nicht dazu dienen soll, das Sammelklagen-Inkasso zu verhindern und der Schutz der Empfänger von Rechtsdienstleistungen gerade nicht die Unwirksamkeit der Abtretung und damit die Abweisung ihrer Schadensersatzansprüche gebietet – im Gegenteil.
Und jenseits des konkreten Verfahrens ist die Justizorganisation gefordert: Die in das Gewand des RDG gekleideten, letztlich aber durch die Sorge vor Massenverfahren motivierten Bedenken der Instanzgerichte sollten dazu führen, dass künftig wenige Einzelspruchkörper für Massenverfahren zuständig sind, die sowohl personell wie organisatorisch ausreichend ausgestattet sind. Denn das Rundholzverfahren wird nicht das letzte Massenverfahren gewesen sein, dass die deutschen Gerichte beschäftigen wird.
Prof. Dr. Christian Heinze ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Heidelberg.