Kommissionsbeschlüsse zu ermäßigtem Stromtarif in Griechenland nichtig

Das Gericht der Europäischen Union hat Beschlüsse der EU-Kommission für nichtig erklärt, mit denen diese festgestellt hatte, dass ein Schiedsspruch, mit dem ein vorgeblich ermäßigter Stromtarif festgesetzt wurde, dem Aluminiumhersteller Mytilinaios keinen Vorteil gewähre. Das EuG betont, dass die Kommission verpflichtet gewesen wäre, unter Vornahme komplexer wirtschaftlicher oder technischer Beurteilungen sorgfältig, hinreichend und umfassend zu untersuchen, ob eine staatliche Beihilfe vorliegt.

Streit um Festsetzung des Stromtarifs

Die Dimosia Epicheirisi Ilektrismou AE (DEI), ein in Athen ansässiger und vom griechischen Staat kontrollierter Stromerzeuger und -lieferant, und ihr größter Kunde, die Mytilinaios AE mit Sitz im griechischen Marousi, führen einen langjährigen Streit über den Stromlieferungstarif, der den Vorzugstarif ersetzen sollte, der Mytilinaios aufgrund eines 1960 unterzeichneten und 2006 ausgelaufenen Vertrags gewährt worden war. Im Rahmen einer am 16.11.2011 unterzeichneten Schiedsvereinbarung kamen die beiden Parteien überein, zur Schlichtung ihres Streits die griechische Energieregulierungsbehörde RAE anzurufen, bei der nach griechischem Recht ein ständiges Schiedsgericht eingesetzt ist. Mit Schiedsspruch vom 31.10.2013 setzte das Schiedsgericht den für Mytilinaios geltenden Stromtarif fest. Den gegen diesen Schiedsspruch erhobene Rechtsbehelf wies das Berufungsgericht Athen zurück.

DEI sieht rechtswidrige staatliche Beihilfen

In diesem Zusammenhang legte DEI zwei Beschwerden bei der Kommission ein, mit denen sie geltend machte, dass zunächst die RAE und dann das Schiedsgericht Mytilinaios eine rechtswidrige staatliche Beihilfe gewährt hätten, da der fragliche Tarif sie dazu zwinge, Mytilinaios Strom zu einem unter dem Selbstkosten- und damit dem Marktpreis liegenden Preis zu liefern. Mit Schreiben vom 12.06.2014 teilte die Kommission DEI mit, dass ihre Beschwerden nicht weiterverfolgt würden. Der fragliche Tarif stelle keine staatliche Beihilfe dar, da die Kriterien der Zurechenbarkeit und des Vorteils nicht erfüllt seien. Daher sei kein förmliches Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen. Daraufhin klagte DEI beim EuG auf Nichtigerklärung der in dem Schreiben enthaltenen Entscheidung, die Beschwerden nicht weiterzuverfolgen (Az.: T-639/14).

Erster angefochtener Beschluss

Im Lauf des Verfahrens vor dem Gericht zog die Kommission mit Beschluss vom 25.03.20151 ("erster angefochtener Beschluss") das streitige Schreiben zurück und ersetzte es. In diesem Beschluss stellte sie fest, dass mit dem Schiedsspruch Mytilinaios keine staatliche Beihilfe gewährt worden sei, und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, dass DEI ihren Streit freiwillig dem Schiedsgericht vorgelegt habe, was dem Verhalten eines umsichtigen marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers entspreche und damit keinen Vorteil beinhalte. DEI erhob daraufhin eine Klage beim Gericht (Az.: T-352/15) auf Nichtigerklärung des ersten angefochtenen Beschlusses. Mit Beschluss vom 09.02.2016 stellte das EuG fest, dass der Rechtsstreit im Verfahren T-639/14 in der Hauptsache erledigt sei. Mit einem Rechtsmittel befasst, hob der Gerichtshof diesen Beschluss jedoch auf (BeckRS 2017, 111493) und verwies die Rechtssache an das EuG zurück (T-639/14 RENV).

Zweiter angefochtener Beschluss

Am 14.08.2017 erließ die Kommission einen zweiten Beschluss ("zweiter angefochtener Beschluss"), mit dem sie sowohl das streitige Schreiben als auch den ersten angefochtenen Beschluss aufhob und ersetzte. Unter Berufung auf dieselben Gründe wie den im ersten angefochtenen Beschluss angeführten bestätigt die Kommission in diesem zweiten Beschluss, dass mit dem Schiedsspruch keine staatliche Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV gewährt worden sei. DEI erhob beim EuG auch Klage auf Nichtigerklärung dieses zweiten Beschlusses (Az.: T-740/17).

EuG gibt allen drei Klagen der DEI statt

Nach Verbindung der drei anhängigen Rechtssachen hat die erweiterte Dritte Kammer des EuG den drei von DEI erhobenen Klagen stattgegeben und sowohl das streitige Schreiben als auch den ersten und den zweiten angefochtenen Beschluss für nichtig erklärt. In seinem Urteil nimmt das Gericht Klarstellungen zur Einstufung eines Beschwerdeführers als "Beteiligten" vor, der einen beihilferechtlichen Beschluss der Kommission, keine Einwände gegen eine staatliche Maßnahme zu erheben, anzufechten berechtigt ist. In der Sache wird im Urteil präzisiert, welchen Umfang die der Kommission obliegende Verpflichtung hat, zu prüfen, ob ein Schiedsgericht, das über Befugnisse verfügt, die mit denen eines ordentlichen staatlichen Gerichts vergleichbar sind, einen Vorteil im beihilferechtlichen Sinne gewährt hat, indem es einen Stromliefertarif festgesetzt hat, der gegebenenfalls nicht dem Marktpreis entspricht.

Verbindliche Rechtswirkungen gegenüber DEI

Zur Zulässigkeit der Klage in der Rechtssache T-740/17 führt das EuG aus, dass der zweite angefochtene Beschluss verbindliche Rechtswirkungen gegenüber DEI habe. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH entfalte der das Nichtvorliegen einer Beihilfe feststellende Beschluss, mit dem die Kommission die Vorprüfungsphase abschließt, verbindliche Rechtswirkungen nämlich auch gegenüber einem Beteiligten. Insoweit weist das EuG darauf hin, dass DEI, da sie geltend gemacht hat, dass der fragliche Tarif eine nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verbotene Beihilfe darstelle, die ihre wirtschaftlichen Interessen beeinträchtige, den Status eines "Beteiligten" im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 1 Buchst. h der Verordnung über die Anwendung von Art. 108 AEUV besitzt, der sich durch die angefochtenen Rechtsakte, mit denen die Beschwerdeverfahren eingestellt wurden, daran gehindert sehe, seine Stellungnahmen in einem förmlichen Prüfverfahren abzugeben. Daher sei die Klage von DEI zulässig, soweit sie auf die Wahrung der Garantien gerichtet ist, die ihr als Beteiligter im Fall der Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zustehen.

DEI: Kommission hätte förmliches Prüfverfahren eröffnen müssen

Das Gericht führt in diesem Zusammenhang aus, dass DEI mit ihren Nichtigkeitsgründen geltend gemacht hat, dass Anlass zu Bedenken oder ernsthafte Schwierigkeiten bestanden hätten, die die Kommission dazu hätten veranlassen müssen, das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen. Was die materiell-rechtliche Frage betrifft, ob die Prüfung der von DEI eingelegten Beschwerden durch die Kommission Bedenken oder ernsthafte Schwierigkeiten hätte aufwerfen müssen, weist das EuG das Vorbringen der Kommission zurück, wonach sich ein umsichtiger privater Kapitalgeber, der sich in der Lage von DEI befunden hätte, für ein Schiedsverfahren entschieden und die Festsetzung des geltenden Tarifs durch ein Schiedsgericht, das mit Sachverständigen besetzt sei, deren Wertungsspielraum durch Parameter beschränkt sei, die den in der Schiedsvereinbarung enthaltenen vergleichbar seien, akzeptiert hätte, sodass die Festsetzung des fraglichen Tarifs durch das Schiedsgericht nicht bewirken könne, dass Mytilinaios ein Vorteil gewährt werde.

Schiedsgericht mit ordentlichem staatlichen Gericht gleichzusetzen

Insoweit bestätigt das Gericht, dass das Schiedsgericht, das in einem gesetzlich vorgesehenen Schiedsverfahren entscheidet und mit einer rechtsverbindlichen Entscheidung einen Stromtarif festsetzt, in Anbetracht seiner Natur, des Kontexts, in dem es seine Tätigkeit ausübt, seines Zwecks und den für es geltenden Regeln, nach denen seine Entscheidungen vor den staatlichen Gerichten anfechtbar sind, in Rechtskraft erwachsen und vollstreckbare Titel sind, als ein Organ einzustufen ist, das Befugnisse ausübt, die der hoheitlichen Gewalt zuzurechnen sind. Das Schiedsgericht könne daher mit einem ordentlichen staatlichen Gericht gleichgesetzt werden.

EU-Kommission muss Vorliegen staatlicher Beihilfe prüfen

Hinsichtlich der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den nationalen Gerichten und der Kommission auf dem Gebiet der beihilferechtlichen Kontrolle kann es laut EuG allerdings sein, dass die nationalen Gerichte selbst die ihnen nach Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 Abs. 3 AEUV obliegenden Pflichten missachten und damit die Gewährung einer rechtswidrigen Beihilfe ermöglichen oder aufrechterhalten oder sogar zu einem Instrument zu diesem Zweck werden, was unter die Kontrollbefugnis der Kommission falle. Die Kommission habe daher, um alle Bedenken oder ernsthafte Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage, ob der mit dem Schiedsspruch festgesetzte fragliche Tarif einen Vorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV beinhaltete, ausräumen zu können, überprüfen müssen, ob eine nicht angemeldete, aber von einem Beschwerdeführer beanstandete staatliche Maßnahme wie dieser Tarif die Tatbestandsmerkmale einer staatlichen Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, einschließlich des Vorliegens eines Vorteils, erfüllt.

Kommission hat erforderliche komplexe Beurteilungen unterlassen

Diese Kontrolle erfordere komplexe wirtschaftliche Beurteilungen insbesondere bezüglich der Frage, ob dieser Tarif den normalen Marktbedingungen entspricht, betont das EuG. Durch die Beschränkung ihrer Analyse auf die Frage, ob sich ein privater Kapitalgeber für das von DEI akzeptierte Schiedsverfahren entschieden hätte, habe die Kommission diese komplexen wirtschaftlichen Beurteilungen jedoch unter Missachtung ihrer eigenen Kontrollpflicht an die griechischen Stellen übertragen. Sie hätte ferner unter Berücksichtigung der von DEI im Verwaltungsverfahren übermittelten Angaben selbst die Frage prüfen müssen, ob die vom Schiedsgericht angewandte Methode zur Ermittlung der Kosten von DEI geeignet und hinreichend plausibel war, um festzustellen, dass der fragliche Tarif den normalen Marktbedingungen entspricht.

EuG erklärt zweiten angefochtenen Beschluss für nichtig

Da die Kommission im zweiten angefochtenen Beschluss nicht den ihr obliegenden Kontrollpflichten nachgekommen ist, vertritt das Gericht die Auffassung, dass sie hätte feststellen müssen, dass ernsthafte Schwierigkeiten bestünden oder es Anlass zu Bedenken gebe, die die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens erforderten. Das Gericht gebe daher der Klage in der Rechtssache T-740/17 statt und erkläre den zweiten angefochtenen Beschluss für nichtig. Da der zweite angefochtene Beschluss für nichtig erklärt ist, könne er weder den ersten angefochtenen Beschluss noch das streitige Schreiben aufheben und ersetzen. Die Klage auf Nichtigerklärung des ersten angefochtenen Beschlusses sei demnach nicht gegenstandslos geworden.

Auch erster angefochtener Beschluss nichtig

In Anbetracht des nahezu identischen Inhalts des ersten und des zweiten angefochtenen Beschlusses gibt das Gericht aus den gleichen Gründen der Klage in der Rechtssache T-352/15 statt und erklärt auch den ersten angefochtenen Beschluss für nichtig, der damit nicht mehr das streitige Schreiben aufheben und ersetzen kann, sodass auch die Klage in der Rechtssache T-639/14 RENV nicht gegenstandslos geworden sei. Nachdem das EuG diese Klage für zulässig erklärt hat, stellt es fest, dass das streitige Schreiben, das die endgültige Stellungnahme der Kommissionsdienststellen zu den Beschwerden von DEI in Form einer Einstellungsentscheidung enthält, einen Formfehler aufweist, da diese von der Kommission als Kollegialorgan – statt von einem Referatsleiter in der GD Wettbewerb – hätte erlassen werden müssen. Deshalb hatte die Kommission selbst dieses Schreiben aufgehoben und ersetzt.

Kommission hätte Bedenken hinsichtlich Vorliegens staatlicher Beihilfe haben müssen

Das Gericht bestätigt außerdem, dass die Kommission ernsthafte Schwierigkeiten oder Bedenken hinsichtlich des Vorliegens einer staatlichen Beihilfe hätte feststellen müssen oder sie zumindest nicht mit der Begründung hätte verneinen dürfen, dass der Schiedsspruch nicht dem griechischen Staat zuzurechnen sei. Da der Schiedsspruch nämlich nach Wesen und Rechtswirkungen Urteilen eines ordentlichen griechischen Gerichts vergleichbar und daher als ein Hoheitsakt einzustufen sei, habe DEI diese Zurechenbarkeit nach Auffassung des Gerichts rechtlich hinreichend nachgewiesen. Das Gericht gibt damit der dritten Klage statt und erklärt auch das streitige Schreiben für nichtig.

EuG, Urteil vom 22.09.2021 - T-639/14

Redaktion beck-aktuell, 24. September 2021.