Kartellüberprüfungen der EU-Kommission bei Einzelhändlern teilweise rechtswidrig

Die Beschlüsse der EU-Kommission, mehrere französische Einzelhandelsunternehmen wegen des Verdachts wettbewerbswidriger Praktiken zu überprüfen, sind teilweise nichtig. Die Kommission habe zwar ausreichende Indizien für eine abgestimmte Verhaltensweise in Bezug auf den Informationsaustausch über Rabatte gehabt, so das Gericht der EU. Sie habe aber keine hinreichend ernsthaften Indizien nachgewiesen, die einen Austausch von Informationen über die künftigen Geschäftsstrategien der Unternehmen vermuten ließen.

Kommission beschloss wettbewerbsrechtliche Überprüfung mehrerer Unternehmen

Nachdem die Kommission Auskünfte über den Informationsaustausch zwischen mehreren Unternehmen und Unternehmensvereinigungen des Lebensmittel-und Nicht-Lebensmittel-Vertriebssektors erhalten hatte, erließ sie im Februar 2017 eine Reihe von Beschlüssen, mit denen sie anordnete, dass mehrere Gesellschaften wettbewerbsrechtliche Nachprüfungen zu dulden hätten. Im Rahmen der Nachprüfungen besuchte die Kommission unter anderem die Büros der betreffenden Gesellschaften, wo Kopien des Inhalts des EDV-Materials angefertigt wurden.

Überprüfte Gesellschaften klagten auf Nichtigkeit der Beschlüsse

Angesichts ihrer Vorbehalte gegen die Nachprüfungsbeschlüsse und den Ablauf der Nachprüfungen haben mehrere überprüfte Gesellschaften Nichtigkeitsklagen gegen die Beschlüsse erhoben. Sie haben unter anderem die Einrede der Rechtswidrigkeit des Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 erhoben, eine Verletzung der Pflicht zur Begründung der Nachprüfungsbeschlüsse sowie eine Verletzung ihres Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gerügt. Einige Klägerinnen halten zudem die Beschlagnahme und das Kopieren von Daten, die zum Privatleben ihrer Arbeitnehmer und Führungskräfte gehören, für rechtswidrig, und haben die Weigerung beanstandet, diese Daten herauszugeben.

EuG: Rüge in Bezug auf private Daten unzulässig

Die letztgenannte Rüge im Verfahren T-255/17 erklärt das EuG für unzulässig. Jedes Unternehmen müsse insbesondere in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten für den Schutz der von ihm beschäftigten Personen und den Schutz ihrer Privatsphäre Sorge tragen. So könne sich ein überprüftes Unternehmen veranlasst sehen, bei der Kommission zu beantragen, bestimmte Daten, die die Privatsphäre seiner Arbeitnehmer oder Führungskräfte beeinträchtigen könnten, nicht zu beschlagnahmen, oder bei der Kommission die Herausgabe dieser Daten zu beantragen. Beruft sich also ein Unternehmen auf den Schutz aufgrund des Rechts auf Achtung des Privatlebens seiner Arbeitnehmer oder seiner Führungskräfte, um sich der Beschlagnahme von EDV-Material oder Kommunikationsgeräten und der Kopie der darin enthaltenen Daten zu widersetzen, entfalte die Entscheidung, mit der die Kommission diesen Antrag ablehnt, Rechtswirkungen gegenüber diesem Unternehmen. Da die Klägerinnen im vorliegenden Fall jedoch vorab keinen Antrag auf Schutz gestellt haben, hätten die Beschlagnahme des fraglichen Materials und das Kopieren der in diesem Material enthaltenen Daten nicht zum Erlass einer anfechtbaren Entscheidung führen können, mit der die Kommission einen solchen Schutzantrag, sei es auch nur stillschweigend, abgelehnt hätte. Außerdem sei der Antrag auf Herausgabe der in Rede stehenden privaten Daten nicht hinreichend präzise formuliert gewesen, um der Kommission eine sachgerechte Stellungnahme dazu zu ermöglichen, sodass die Klägerinnen zum Zeitpunkt der Klageerhebung keine Antwort der Kommission erhalten hatten, die eine anfechtbare Handlung hätte darstellen können.

Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 VO Nr.1/2003 greift nicht

Allerdings seien die Nachprüfungsbeschlüsse der Kommission teilweise nichtig, so das EuG zur Begründetheit. Die die gegen Art. 20  Abs.1 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 gerichtete Einrede der Rechtswidrigkeit weist das EuG allerdings zurück. Diese Bestimmungen beträfen die allgemeine Befugnis der Kommission zur Vornahme von Nachprüfungen beziehungsweise die Verpflichtung der Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, Nachprüfungen zu dulden, wenn sie durch Entscheidung angeordnet werden. Zur Stützung dieser Einrede der Rechtswidrigkeit hätten die Klägerinnen in der jeweiligen Rechtssache eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf geltend gemacht. In den Rechtssachen T-249/17 und T-254/17 hätten sie auch eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit und der Verteidigungsrechte gerügt.

Recht auf wirksamen Rechtsbehelf nicht verletzt

Zur Rüge einer Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf weist das Gericht auf die Rechtsprechung des EGMR hin. Danach hänge das Bestehen eines solchen Rechts von vier Voraussetzungen ab: Vorliegen einer effektiven gerichtlichen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, die Möglichkeit für den Einzelnen, im Fall einer Unregelmäßigkeit eine angemessene Wiedergutmachung zu erwirken, die sichere Zugänglichkeit zum Rechtsbehelf und eine gerichtliche Kontrolle innerhalb einer angemessenen Frist. Das System zur Kontrolle des Ablaufs der Nachprüfungen erfülle diese vier Voraussetzungen. Die Rüge der Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf sei daher unbegründet.

Kein Verstoß gegen Grundsatz der Waffengleichheit

Die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Waffengleichheit und gegen die Verteidigungsrechte weist das EuG auf der Grundlage einer ständigen Rechtsprechung zurück. Danach könne die Kommission im Stadium der Voruntersuchung nicht verpflichtet werden, die Indizien anzugeben, die die Nachprüfung eines Unternehmens rechtfertigen, das im Verdacht steht, wettbewerbswidrige Praktiken an den Tag zu legen. Eine solche Verpflichtung würde nämlich das durch die Rechtsprechung geschaffene Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Wirksamkeit der Untersuchung und dem Schutz der Verteidigungsrechte des Unternehmens in Frage stellen.

Nachprüfungsbeschlüsse ausreichend begründet

Zur Verletzung der Begründungspflicht führt das EuG aus, dass die Nachprüfungsbeschlüsse die Vermutungen angeben müssten, denen die Kommission nachzugehen beabsichtigt. Sie müsse angeben, was geprüft wird und auf welche Punkte sich die Nachprüfung beziehen soll (Beschreibung der vermuteten Zuwiderhandlung, also der ihrer Ansicht nach relevante Markt, die Art der vermuteten Wettbewerbsbeschränkungen und die Sektoren, die von der angeblichen Zuwiderhandlung erfasst sind). In allen Rechtssachen ließen die Nachprüfungsbeschlüsse substantiiert erkennen, dass die Kommission der Ansicht war, über hinreichend ernsthafte Indizien zu verfügen, die sie dazu veranlasst haben, wettbewerbswidrige Praktiken zu vermuten.

Betreten der Büros erfordert ernsthafte Indizien für Verstoß gegen Wettbewerbsregeln

Was den Klagegrund der Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung betrifft, weist das Gericht darauf hin, dass der Unionsrichter, um sicherzustellen, dass ein Nachprüfungsbeschluss nicht willkürlich ist, prüfen muss, ob die Kommission über hinreichend ernsthafte Indizien verfügt hat, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln durch das betreffende Unternehmen vermuten lassen.

Auch nicht aufgezeichnete Gespräche mit Lieferanten heranziehbar

In Bezug auf die Form der Indizien, die die Nachprüfungsbeschlüsse gerechtfertigt haben, weist das Gericht darauf hin, dass Gespräche mit Lieferanten, die vor der Einleitung einer Untersuchung geführt wurden, auch dann Indizien darstellen, wenn sie nicht aufgezeichnet wurden. Andernfalls würde nämlich die Aufdeckung wettbewerbswidriger Praktiken durch die abschreckende Wirkung, die eine förmliche Befragung, die aufgezeichnet werden muss, auf die Bereitschaft der Zeugen zur Auskunftserteilung und zur Anzeige von Zuwiderhandlungen haben kann, schwer beeinträchtigt. Außerdem stellten diese Gespräche mit Lieferanten Indizien dar, die der Kommission ab dem Zeitpunkt, zu dem sie stattgefunden haben, und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem sie Gegenstand eines Protokolls sind, zur Verfügung gestanden haben.

Keine ausreichenden Indizien für Informationsaustausch über künftige Geschäftsstrategien

Weiter stellt das EuG fest, dass die Kommission über hinreichend ernsthafte Indizien verfügt hat, um eine abgestimmte Verhaltensweise in Bezug auf den Informationsaustausch über Rabatte auf den Beschaffungsmärkten für bestimmte Produkte des täglichen Bedarfs und die Preise auf dem Markt für den Verkauf von Dienstleistungen an Hersteller von Markenprodukten zu vermuten. Dagegen gibt das Gericht in Ermangelung solcher Indizien für den Informationsaustausch über die künftigen Geschäftsstrategien der unter Verdacht stehenden Unternehmen dem Klagegrund der Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung in Bezug auf diese zweite Zuwiderhandlung statt und erklärt daher die Nachprüfungsbeschlüsse teilweise für nichtig.

EuG, Urteil vom 05.10.2020 - T-249/17

Redaktion beck-aktuell, 6. Oktober 2020.